Auch Demokratie muss sich ständig erneuern

Baden-Württembergs Ministerpräsident Stefan Mappus und Bahnchef Rüdiger Grube lehnen weiterhin stur einen Baustopp am Stuttgarter Bahnhof ab und erweisen sich damit als die eigentlichen Fortschrittsfeinde. Denn sie begreifen nicht, weil sie es nicht wollen oder gar können, dass sich Fortschritt nicht in erster Linie an neuem Beton, Stahltrassen, gigantischen Bauten bemisst, sondern an der Qualität zum einen der Lebensumwelt für die Menschen, zum anderen aber – und wohl noch mehr – an deren Mündigkeit, zu der die aktive Mitwirkung an politischen Entscheidungen unabdingbar gehört. Genau diese jedoch wollen die baden-württembergischen Regierenden – mit uneingeschränkter Unterstützung der Kanzlerin – ihrer Bevölkerung unter Verweis auf bürokratische Abläufe verweigern. Die Mappus, Grube und Co. haben sich über Jahrzehnte hinweg die einst demokratischen Institutionen untertan gemacht, haben sie – über Parteienfilz, Lobbyistenherrschaft und Kungelrunden – als Beute genommen und so die demokratischen Mitwirkungsrechte der Bevölkerung immer weiter reduziert, sie letztlich auf den einmaligen Wahlakt alle vier, lieber noch fünf oder mehr Jahre reduziert. Mit einem einzigen Kreuz soll dann über die Gesamtpolitik einer Regierung befunden werden, wie Angela Merkel kürzlich noch einmal bekräftigte und damit Demokratie zu einen Formalismus verkleinerte.

Mit dankenswerter Offenheit hat der Präsident des Bundesverbandes der deutschen Industrie, Hans-Peter Keitel, erkennen lassen, wie sehr ihn die Demokratie nervt. Manchmal müsse man überlegen, ob man den Bürgern nicht zu viel erkläre, weil das langwierig sei und »am Ende … mehr schadet als nützt«. Die begründete Skepsis der Bürger rückt er in die Nähe einer Phobie; für ihn sind Kritiker offenbar krank. Es macht dafür auch die Finanzwirtschaft verantwortlich, die viel Vertrauen für die Wirtschaft insgesamt zerstört habe, und merkt dabei nicht, dass die auf Verwirklichung von »Stuttgart 21« drängenden Unternehmen sich um kein Deut besser verhalten als die Zocker in den Banken. Es ist die überholte Wachstumslogik, die die Wirtschaft dazu veranlasst, sich immer neue Großprojekte auszudenken, mit denen sie ihre Profite machen kann. Der nachhaltige Nutzen solcher Unternehmungen interessiert sie nicht; ihr geht es allein um das schnelle Geld. Sie setzt darauf, dass die Politik dies zur Verfügung stellt – aus Steuermitteln, zu denen sie selbst jedoch möglichst wenig beitragen will.

Solche Zusammenhänge werden immer deutlicher erkannt, zumal die meisten dieser Geschäfte im Dunkeln getätigt werden, in Hinterzimmern, in denen es vor allem darum geht, wie man die eigenen Pläne möglichst ungestört durchsetzen kann. Dies wird paradoxerweise mit der Komplexität, der Kompliziertheit der Vorhaben begründet – etwa nach dem Muster: Je komplexer, je komplizierter, desto weniger sollten darüber entscheiden. Tatsächlich jedoch wird genau umgekehrt ein Schuh daraus. Nur wenn möglichst viel Sachverstand in die Prüfung der Projekte einfließt, kann kompetent über ihren Sinn, ihre Durchführbarkeit und über Bedingungen ihrer Realisierung befunden werden. Hatten früher gewählte Gremien noch ausreichenden Einblick in die Probleme und waren dadurch kurzfristige, sogar Ad-hoc-Entscheidungen noch möglich, ist das heute immer weniger der Fall, schon gar nicht bei Großprojekten. Hier genügt es nicht mehr, die Entscheidungen an einige gewählte Vertreter zu delegieren, die in der Regel überfordert sind und selbst nach Beratung rufen, die sie in der Regel aber nur von einer Seite, der Druck machenden Wirtschaft, akzeptieren. Hier ist eine Weiterentwicklung der Demokratie vonnöten, mit der eine sachgerechte und zugleich menschenfreundliche Lösung gefunden wird; gerade sie erfordert die Einbeziehung jener, die an das Problem ohne kurzfristige und vorrangig finanzielle Interessen herangehen.

Mappus, Grube, auch Merkel erweisen sich am Stuttgarter Beispiel als Dogmatiker eines überholten Demokratieverständnisses. Sie haben die gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten 20 Jahre verschlafen und machen Politik im Stile des vergangenen Jahrhunderts. Das beherrschen sie, doch den Herausforderungen der Gegenwart stehen sie verständnis- und hilflos gegenüber. Daher setzen sie Gewalt ein, wo Konsenssuche verlangt wäre. Daher versuchen sie zu tricksen und zu intrigieren, wo es auf Offenheit und Kompromissbereitschaft ankommt. Wie auch immer der Konflikt um den Stuttgarter Bahnhof ausgeht, die etablierte Politik hat in ihm bislang ihre totale Unfähigkeit bewiesen. Ein Befund, der langfristig nicht ohne Folgen bleiben kann.

2 Replies to “Auch Demokratie muss sich ständig erneuern”

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  2. Hoffen wir mal, daß der Konflikt um „Stuttgart 21“ langfristig selbst im biederen Deutschland nicht ohne Folgen bleibt! Und schauen wir derweil nach Frankreich, wo der brave „deutsche Michel“ von den kämpferischen Franzosen Anschauungsunterricht in direkter Demokratie bekommt, wie sich Bürger zu verhalten haben, wenn sie sich von der Politik nicht richtig vertreten fühlen.

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