Kapitalismus vor dem »Mauerfall«

(pri) Das Bild mag simpel sein, aber dennoch ist es nicht falsch: Wenn im Boxkampf der eine nach hartem Schlag plötzlich zu Boden geht, kann es dem anderen passieren, dass er in seinem Eifer zu schwungvoll nachsetzt und darüber selbst zu Fall kommt. Genau das passiert derzeit – im übertragenen Sinne – mit dem kapitalistischen System, das sich schon so sehr als sicherer Sieger fühlte und jetzt erkennen muss, dass es ohne ebenbürtigen Gegner selbst ins Straucheln kommt.

In ihrem Feuilleton hat die Berliner Zeitung kürzlich »die Finanzmärkte und die Neuen Medien, die globale Migration und die ökologische Katastrophe« als die größten Herausforderungen dieser zeit genannt, mit denen der Kapitalismus ganz allein fertig werden muss und Misserfolge nicht mehr auf das Wirken eines ideologischen Widerparts schieben kann. Dabei übersieht das Blatt freilich, dass sich das kapitalistische System diese Herausforderungen selbst erschaffen hat. Die Finanzmärkte entkoppelten sich von der Realwirtschaft, das ungebremste Profitstreben ist wesentliche Ursache sowohl der globalen Migration als auch der drohenden ökologischen Katastrophe. Und beschleunigt wurden diese Prozesse durch eine im Grunde positive Errungenschaft des Kapitalismus – die neuen, schnellen, weltumspannenden Medien. Auf diese Entwicklungen in ihrer Komplexität findet der Kapitalismus keine Antwort mehr. Vielmehr greift er nach Lösungen aus anderen Gesellschaftssystemen, aus solchen, die er gerade noch vehement bekämpfte.

So wie China nach 1989 aus der Krise des Sozialismus fand, indem es ohne Aufgabe des autoritären Staatssystems kapitalistische Wirtschaftsprinzipien anwandte, so versucht die Europäische Union heute die Krise des Kapitalismus zu bewältigen, indem sie, ohne die kapitalistische Wirtschaftsweise – auch in ihren zerstörerischen Ausprägungen, aufzugeben, autoritäre Herrrschaftsformen einsetzt. Sie geriert sich als Zaubermeister, der der Wasserflut durch ein energisches »In die Ecke, Besen, Besen …« Herr zu werden vermag. In China konnte das Experiment im Sinne der dortigen Führung gelingen, nicht zuletzt wegen der fehlenden demokratischen Tradition.

In Europa wird es gerade wegen dieser Tradition zum Scheitern verurteilt sein – ob nun die Europäer der autoritären Zumutung widerstehen oder nicht. Denn Letzeres wäre nichts anders als der »Mauerfall« des kapitalistischen Systems; es verlöre seine letzte Bindekraft. Es wäre ein Mauerfall nicht nur im übertragenen, sondern auch im direkten Sinn, fiele doch die Brandmauer, die den Kapitalismus mit den demokratischen Grundsätzen eingezogen wurde, um ihn vor einem Übergang in die Diktatur zu bewahren, die in einem auf ungerecht verteiltem Eigentum beruhenden System immer angelegt ist. Ohne Demokratie mutiert Kapitalismus zwangsläufig zur Diktatur, wie bereits schrecklich bewiesen wurde.

Unübersehbar sind einige Parallelen von heute zu den 1930er Jahren, als schon einmal eine verfehlte, auf Profitmaximierung ausgerichtete Wirtschaftspolitik der Humus für autoritäre Lösungen wurde. Zwar fehlt heute eine diktatorisch gesinnte Partei, die zur Machtübernahme bereit steht, doch lässt sich Abkehr von der Demokratie auch als schleichender, vorgeblich alternativloser Prozess gestalten – in den Worten Angela Merkels als »marktkonforme Demokratie«.