Durch das Internet verliert die »repräsentative Demokratie« ihre Daseinsberechtigung

(pri) Die arrogante Attitüde, dass die Chaostruppe der Piratenpartei mit ihren uferlosen Diskussionen ja doch nie zu einer klaren Entscheidung komme, dürfte sich mit deren Bundesparteitag am letzten Wochenende ziemlich erledigt haben. Denn in Neumünster fassten die Piraten nicht nur eindeutige Beschlüsse zu einigen strittigen Fragen ihrer jüngsten Vergangenheit, sondern bewältigten das umfangreiche Pensum außerordentlich diszipliniert und zielführend – einschließlich einer Vorstandswahl, deren Ablauf sich wohltuend von den quälenden Personaldiskussionen abhob, die derzeit die »etablierten« Grünen, FDP, Linken und auch – im Hinblick auf die Kanzlerkandidatur – die SPD führen.

 

Den Piraten gelingt die Zusammenführung von umfassender Basisdiskussion und allgemein akzeptierten Entscheidungen nicht trotz ihrer ausgeprägten Debattenkultur, sondern gerade wegen ihr. Wo jede Meinung so viel wie die andere gilt und alle die Chance haben, sich in den Beschlussfindungsprozess einzubringen, ist auch die Bereitschaft vorhanden, das Votum der Mehrheit zu achten und umzusetzen; die ständige Beobachtung seitens der Parteibasis trägt dazu ihr Teil bei. Sie sorgt auch dafür, dass gewählte Funktionäre nichts anderes sind als Moderatoren und Kommunikatoren; auch ihre Meinung zählt nicht mehr als die jedes anderen Mitglieds. Mit dem alten autoritären Modell, dass irgendwelche – oft selbsternannte – Führungsfiguren in einer Partei den Ton angeben und für sie die Ziele, die Inhalte, die Vorgehensweisen formulieren, geht es im Zeitalter des Internets unwiderruflich zu Ende. Die repräsentative Demokratie, die aus ganz praktischen Gründen jahrzehntelang die wirkliche Demokratie – nämlich die Volksherrschaft unter Einbeziehung aller ihrer Glieder – ersetzen musste, verliert ihre Daseinsberechtigung in dem Maße, wie diese wirkliche Volksherrschaft via Internet durch alle möglich wird

 

Wie sehr die alte repräsentative Demokratie ausgespielt hat, war an der wachsenden Parteieinverdrossenheit und der ständig sinkenden Wahlbeteiligung seit langem ablesbar. Dass es gegenwärtig eine neue Lust am Politikmachen gibt und viele Nichtwähler wieder in die Wahllokale gehen, zeigt die Sehnsucht nach mehr Demokratie und die Bereitschaft zur Nutzung der neuen Möglichkeiten des Mitbestimmens. Diese »liquide Demokratie«, die den Etablierten den Boden unter den Füßen wegzieht, wird aus diesem Grunde von ihnen heftig – und absehbar völlig wirkungslos – bekämpft. Zuerst von den Parteien, die der Partei dieser neuen Bewegung, den Piraten, inhaltlich nicht zufällig am nächsten stehen und methodisch einstmals ähnliche Vorstellungen hatten wie diese. Sie, die Grünen, die Linken., zum Teil die SPD auch auch die FDP hinsichtlich ihrer fast vergessenen bürgerrechtlichen Positionen, werden deshalb zu deren ersten Blutspendern.

 

Doch die Union sollte sich nicht allzu sicher fühlen; sie, die derzeit völlig inhaltslos agiert, wird eines Tages mit den Inhalten der Piraten konfrontiert werden. Und diese Inhalte werden, etwas pauschal gesagt, eher »links« sein, denn sie ergeben sich aus den Problemen der Mehrheit der Bevölkerung, die bisher bei den Regierungsentscheidungen total unterrepräsentiert war. Gerade die Finanzpolitik, die sich ausschließlich am Wohlergehen der Oberschicht orientiert und dafür alle anderen in der Gesellschaft zur Kasse zwingt, ist dafür ein schlagendes Beispiel. Es ist kein Zufall, dass grundsätzliche Kapitalismuskritik, Massenproteste gegen Bankenmacht und das Aufkommen der Piratenpartei zur gleichen Zeit stattfinden.

 

Natürlich ist zwischen Theorie und Praxis noch ein weiter Weg. Das alte Establishment wird nichts unversucht lassen, auch diese neue gesellschaftliche Kraft zu neutralisieren, sie zu vereinnahmen oder auszugrenzen – bis hin zur Kriminalisierung. Es wird ihr da in der Zukunft nicht anders gehen als der SPD seit mehr als einem Jahrhundert, den Grünen seit Jahrzehnten und der Linken in der Gegenwart. Die Hoffnung, dass sie dagegen immuner sein könnte als diese Parteien, die letztlich stets vom Kapital in seinem Sinne diszipliniert wurden, ergibt sich aus ihrem so emanzipatorischen wie transparenten Umgang mit dem einzelnen. Der Bürger wird zum Subjekt der politischen Entscheidung und ist nicht mehr allein ihr Objekt. Es dürfte der etablierten Macht schwerfallen, diese sich allmählich herauskristallisierende Erfahrung, so schemenhaft sie derzeit noch sein mag, wieder total vergessen zu machen.