(pri) … aber sie ist genügsam geworden. Nichts zeigt das deutlicher als der Kontrast zwischen der Moskauer Arbeiterschaft, die 1935 die Metro ihrer Stadt erst baute und dann selbstbewusst in Besitz nahm, und den Medellíner Slumbewohnern, 2011 beschenkt mit einer Rolltreppe, die nicht ihr Werk, aber wenigstens zu ihrem Nutzen ist. Ein Almosen statt Eigenleistung.
Es ist Mode geworden bei den Politikern, aber auch manchem vorgeblichen »Qualitätsjournalisten«, das sowjetische Russland allein als Ort Stalinschen Terrors, als menschenrechtliche Wüste, riesigen Gulag gar zu beschreiben – eingeschränkt durch wohlbedacht angepasste ideologische Scheuklappen. Die wirklichen Zeitzeugen jener Jahre, die zum Beispiel Namen wie Egon Erwin Kisch oder Bertolt Brecht tragen, werden vorsätzlich ignoriert, dabei ist Kischs »Zaren, Popen, Bolschewiken« eine so wahrhaftige Schilderung des neuen Sowjetrussland, weil sie neben allem Enthusiasmus die Widersprüche nicht ausklammerte. Und Brecht brachte auf den Punkt, was die Russen ihre harte, oft unmenschliche Aufbauarbeit ertragen ließ – die schließliche Inbesitznahme ihres Ertrags:
Inbesitznahme der großen Metro durch die Moskauer Arbeiterschaft am 27. April 1935
Wir hörten: 80 000 Arbeiter
Haben die Metro gebaut, viele noch nach der täglichen Arbeit.
Oft die Nächte durch. Während dieses Jahres
Hatte man immer junge Männer und Mädchen
Lachend aus dem Stollen klettern sehen. Ihre Arbeitsanzüge,
Die lehmigen, schweißdurchnässten, stolz vorweisend.
Alle Schwierigkeiten –
Unterirdische Flüsse, Druck der Hochhäuser,
Nachgebende Erdmassen – wurden besiegt. Bei der Ausschmückung
Wurde keine Mühe gescheut: Der beste Marmor
Wurde weit hergeschafft, die schönsten Hölzer
Sorgfältig bearbeitet. Beinahe lautlos
Liefen schließlich die schönen Wagen
Durch taghelle Stollen: für strenge Besteller
Das Allerbeste.
Als nun die Bahn gebaut war nach den vollkommensten Mustern
Und die Besitzer kamen, sie zu besichtigen und
Auf ihr zu fahren, da waren es diejenigen,
Die sie gebaut hatten.
Es waren da Tausende, die herumgingen,
Die riesigen Hallen besichtigend, und in den Zügen
Fuhren große Massen vorbei, die Gesichter –
Männer, Frauen und Kinder, auch Greise –
Den Stationen zugewandt, strahlend wie im Theater, denn die Stationen
Waren verschieden gebaut, aus verschiedenen Steinen,
In verschiedener Bauart, auch das Licht
Kam aus immer anderer Quelle. Wer in den Wagen einstieg
Wurde im fröhlichen Gedränge nach hinten geschoben,
Da die Vorderplätze zur Besichtigung der Stationen
Die besten waren. An jeder Station
Wurden die Kinder hochgehoben. Möglichst oft
Stürmten die Fahrenden hinaus und betrachteten
Mit fröhlicher Strenge das Geschaffene. Sie befühlten die Pfeiler
Und begutachteten die Glätte. Mit den Schuhen
Fuhren sie über die Steinböden, ob die Steine
Auch gut eingefügt seien. Zurückströmend in die Wagen
Prüften sie die Bespannung der Wände und griffen
An das Glas. Immerfort
Wiesen Frauen und Männer – unsicher, ob es die richtigen waren –
Auf Stellen, wo sie gearbeitet hatten: das Gestein
Trug die Spuren ihrer Hände. Jedes Gesicht
War gut sichtbar, denn es gab viel Licht.
Vieler Lampen, mehr als in irgendeiner Bahn, die ich gesehen habe.
Auch die Stollen waren beleuchtet, kein Meter Arbeit
War unbeleuchtet. Und all dies
War in einem einzigen Jahr gebaut worden und von so vielen Bauleuten,
Wie keine andere Bahn der Welt. Und keine
Andere Bahn der Welt hatte je so viele Besitzer.
Denn es sah der wunderbare Bau,
Was keiner seiner Vorgänger in vielen Städten vieler Zeiten
Jemals gesehen hatte: als Bauherren die Bauleute!
Wo wäre dies je vorgekommen, dass die Frucht der Arbeit
Denen zufiel, die da gearbeitet hatten? Wo jemals
Wurden die nicht vertrieben aus dem Bau,
Die ihn errichtet hatten?
Als wir sie fahren sahen in ihren Wagen,
Den Werken ihrer Hände, wussten wir:
Dies ist das große Bild, das die Klassiker einstmals
Erschüttert voraussahen.
Wie anders der so ähnliche strukturierte Text Volker Brauns über die Slumbewohner von Medellín. Da ist nichts von Arbeit, sondern nur von Armut. Keine Leistung wird beschrieben, aber Mangel. Nicht Schöpfer besichtigen ihr Werk, vielmehr staunen »Weggeworfene« über ein Wunder. Und wo in Moskau Licht hell erstrahlt, legt Medellín »nur den Schatten ab«. Utopie heute tastet sich nur langsam vor. Dabei war ihr gestrige Utopie doch so meilenweit voraus.
Inbesitznahme der großen Rolltreppe durch die Medellíner Slumbewohner am 27. Dezember 2011
Ich höre, in der berüchtigten Stadt Medellín
Wo die unermeßliche Armut kilometerweit ausschwärt
Ließ der Bürgermeister in der unbetretbaren
Comuna 13
Eine gigantische Rolltreppe bauen für sage und schreibe 5 Millionen
Um dem fußgängerischen Pack da oben
In der dünnen Luft
Das Treppensteigen zu ersparen. Den 12 000
Hochgeborenen wurde ein Teppich ausgerollt
Auf ihren stinkenden Steilhang, die Hölle genannt
Aus unverrottbarem Stahl bis auf den Müllberg
Zu ihren Drunter- und Drüberkünften. So
Erreicht sie der technische Fortschritt
In ihrem Mangeldistrikt, den das Mehl und die Milch meiden
Auch das Licht legt hier nur den Schatten ab, aber diese
Riesentreppe versteigt sich wie ein Bergbach, eine Silberader
Zu den Elenden. Ich seh sie
Behutsam auf die Stufe treten, mit der ganzen Sohle
Und staunend stillestehen
Weil diese Eisenleiter wortlos für sie bereitsteht
Und sich ihren Füßen anbequemt.
Von welchem Zauber immer getrieben
Setzt sie ihre leichten Leiber in Bewegung, zwischen nackten
Backsteinwänden über den Wellblechdächern, die mit Steinen
Beschwert sind. Unversehens
Mit tausend nicht getanen Schritten, in tödlicher
Ruhe, wie zur Schau gestellt auf dem selber laufenden Laufsteg
Gelangen sie ohne zu schwitzen
Ohne Atemnot, in die schwindelerregende Höhe von 28 Stockwerken
Oder werden von dort herab katzenschnell
Vom Rand
Ins Zentrum getragen. Welche
Erhebung aus dem Dreck. Welch einfacher Tag
Scheint zu beginnen. Minuten ohne Verzweiflung
Momente ohne Mord. Die Weggeworfenen
Werden aufgerafft und befördert
Zwischen den Welten, Hölle und Himmel. Zurückgekehrt
Wie es heißt, in die Zivilisation, eingesogen
In den großen Kreislauf.
Die unvordenkliche Lösung
In keiner Stadt je gesehen, das Unvereinbare zu verbinden.
Welche Erfindungen müssen gemacht werden, Konstruktionen
Über den Felsenrücken der Bedrückung
Fahrstühle, Falltüren, um das Elend zu versenken
Fantastische Aufstände, Niederwerfungen
Allen Unrechts.
Was als Ende der Geschichte beschrieben wurde, war in Wirklichkeit ihr Krebsgang – kein normaler Lauf. Utopie heute verspricht den neuen Anlauf, und Hoffnung beginnt da, wo eine kleine Schneise in das Unrecht geschlagen wird – wie in Medellín. Denn von da wächst das Bewusstsein, man müsse nicht auf das Ausrollen des Teppichs warten, sondern kann ihn selbst erst weben und dann stolz betreten.