Weit am Tor vorbei …

(pri) Wenn ein Tor fällt (oder eben gerade nicht), öffnet sich schon mal ein neues – derzeit ein Einfallstor für nostalgische Torheit. Die Rede ist von der unerhörten Absicht des Weltfußballverbandes FIFA, das Tor im Spiel der 22 Kicker nicht länger dem gelegentlichen Zufall zu überlassen, sondern gewissermaßen hieb- und stichfest zu machen.

 

Tor oder nicht Tor, dass soll die Frage künftig nicht mehr sein, denn ein Piepser im Ball oder im Torpfosten signalisiert demnächst dem Schiedsrichter: das Leder war drin (oder eben nicht). Damit aber legt die FIFA nach Meinung etlicher Fußballenthusiasten die Axt an das Kernstück des Balltretens. Nun kann man zwar schon seit einiger Zeit den Eindruck gewinnen, Fußball haben weniger mit Sport als mit Irrationalität aller Art zu tun, ist er doch offenbar nicht zu denken ohne bengalisches Feuerwerk, chorische Beleidigungen und Massenfaustkämpfe, noch viel weniger aber mit Sitzplätzen im Stadion und eben nun auch eindeutigen Torentscheidungen. Fußball geht demnach nicht ohne Rückfall in gewisse urmenschliche Verhaltensweisen oder, wie in einem Kommentar zur Sache zu lesen war, »es gibt Katastrophen, die gehören unverzichtbar zur menschlichen Bedürfniskultur«. Wer das vom Sport erwartet, für den ist die Verweigerung eines eindeutigen Ja oder Nein in Sachen Torerfolg freilich nur konsequent.

 

Und könnte beispielgebend sein. Andere Sportarten sollten vielleicht die Stoppuhr aus den Stadien verbannen. Genügt denn nicht ein Zielrichter, der das Ergebnis feststellt? Oder ein Weitenrichter, der beim Hammerwurf auf den weitesten Einschlag zeigt, sofern er selbst nicht gerade an der falschen Stelle stand? Elektronik beim Fechten, da fehlt es doch an Nervenkitzel. Soll nicht der der Sieger sein, der – wie beim Boxen – als erster in die Knie geht? Auch für UEFA-Chef Michel Platini genügt im Fußball ein Torrichter. Wenn der »einen Meter von der Linie entfernt ist und eine gute Brille trägt, dann kann er sehen, ob der Ball drin ist oder nicht«. Besonders genau vermutlich, wenn die Brille einen massiven Goldrand hat und mit Diamanten besetzt, ansonsten aber unklarer Herkunft ist. Dann erübrigt sich vielleicht der Kauf ganzer Mannschaften oder auch nur Schiedsrichterkollektive zur Ergebnismanipulation; die Brille macht’s.

 

Aber Spaß beiseite: Wer Sport im allgemeinen und Fußball im besonderen heute noch als Spaß auffasst, als eine Spiel ohne Folgen, als die Lust am fairen Wettkampf, wo – so Coubertin – nicht der Sieg, sondern die Teilnahme entscheidet, der schießt wohl weit am Tor vorbei. Längst spielt sich in den Sportarenen jener brutale Existenzkampf ab, der die heutige Gesellschaft generell kennzeichnet. Der sportliche Sieg ist nicht das hübsche Nebenprodukt des Amateurs, der sich seinen Lebensunterhalt anderweitig verdient, sondern der reine – und oftmals schwer erarbeitete – Broterwerb. Da kann es sich niemand leisten, das Resultat irgendeinem Zufall zu überlassen. Er muss Erfolg haben, wie jeder in jedem anderen Job. Und er tut dafür alles, von der eigenen Entbehrung bis zum gesundheitsschädigenden Raubbau am Körper, von der psychologischen Kriegführung gegen den Rivalen bis zum Einklagen des Sieges vor Gericht. Und wie in jedem anderen Job ist der Preis dafür hoch. Gerade erst wurde eine Studie bekannt, nach der Spitzensportler zu 11,4 Prozent angeben, an Burn-out zu leiden, 9,3 Prozent, an Depressionen. 10,8 Prozent nehmen regelmäßig Schmerzmittel. 5,9 Prozent gaben sogar an, zu dopen, und 8,7 Prozent, sich an Manipulationen zu beteiligen.

 

Im Sport geht es heute in erster Linie um viel Geld und überhaupt nicht um Spaß an der Freude. Verbissen wird um den Sieg gerungen – nicht zuerst, weil der Ehrgeiz befriedigt werden soll, sondern weil man davon leben will – und das möglichst gut. Für irgendwelche Zufälle, die man heute cool wegsteckt, um es morgen noch einmal zu versuchen, bleibt da kein Platz. Denn nur wenn der Ball wirklich im Tor war, klingelt die Kasse.