Helmut Kohl wird 85: Vermächtnis eines Machtmenschen

(pri) Warum eigentlich prozessiert Helmut Kohl so ausdauernd und gewiss auch kostenträchtig gegen Heribert Schwan, Tilman Jens und ihr Buch »Vermächtnis. Die Kohl-Protokolle«? Wo er doch all dies, was er dem Ghostwriter über seine politische Laufbahn, die mehr oder minder getreuen Gefährten, Kämpfe, Intrigen, Siege, weniger Niederlagen verriet, ein gutes Jahr darauf noch einmal den Fernsehjournalisten Stephan Lamby und Michael Rutz aufs Videoband sprach. Gewiss, er wiederholte nicht alle Verbalinjurien gegen die Weizsäcker und Blüm, Geißler und Süssmuth, Biedenkopf und Merkel, aber in der Sache rückte er kein Deut von seiner Fundamentalkritik, seiner Verachtung für die einstigen Mitkämpfer ab.

Die sechs Stunden Interview, die Lamby und Rutz jetzt ins Netz stellten und von denen die ARD aus Anlass von Kohls 85. Geburtstag am 3. April vergangene Woche zwei anderthalbstündige Auszüge sendete, sind also keine Korrektur des »Vermächtnisses«, sondern eher seine Bestätigung, gewissermaßen eine Autorisierung unter Verzicht auf allzu drastische Formulierungen. Sie enthalten politisch kaum Neues, wie auch, wo große Teile des Kohl-Konvoluts bereits zu früheren Anlässen in die Öffentlichkeit kamen. Aber sie sind dennoch aufschlussreich, liefern sie doch ein wenig geschöntes Psychogramm des Altkanzlers mit vielen neuen Facetten.

Mehr als je lässt Kohl durchblicken, wie sehr er alles, die Partei, seine Weggefährten, die Familie, gar sich selbst und seine Gesundheit einem einzigen Ziel unterwarf, einem Zweck, der für ihn alle Mittel heiligte – der Machtausübung. Dabei ging es ihm nach dem Zerwürfnis mit Heribert Schwan ganz offensichtlich darum, sein Bild in der Öffentlichkeit nach eigenem Gutdünken zu inszenieren. Er sitzt in einer barocken Möbellandschaft, vor einer imposanten Bücherwand, korrekt gekleidet mit Anzug, Schlips und Ausgehschuhen und antwortet beherrscht und gelassen auf die – weitgehend braven – Fragen. Zugleich aber ist er so sehr von sich und der Richtigkeit seines Tuns überzeugt, dass er nicht nur bereitwillig, sondern geradezu mit Stolz und Genugtuung über die Kohlschen Mechanismen der Bemächtigung seiner Umgebung Auskunft gibt.

So ist das »System K.« für ihn nichts Negatives, sondern im Gegenteil wie eine Seilschaft beim Bergsteigen: »Wenn der eine an der Spitze auf den Gipfel kommt, zieht er die anderen nach.« Er habe dies durch viele persönliche Kontakte gepflegt, »am Telefon, denn am Fax hören Sie keine Stimme. Aber wenn jemand in einer schwierigen Situation ist, muss man die Anteil nehmende Stimme hören«. Viele in der CDU hätten ihn auch deshalb bei wichtigen Personalentscheidungen um Rat gefragt; darauf hätte er aufbauen können. Die sorgende Anteilnahme hatte also ihre feste Funktion im »System K.«; sie schuf Bindungen, die einmal von Nutzen sein konnten.

Ganz andere Erfahrungen machten jene, die sich gegen den mächtigen Kanzler und Parteivorsitzenden stellten. Vor dem tiefen Fall in Ungnade konnten sie auch langjährige enge Beziehungen nicht bewahren. Norbert Blüms Namen will Kohl überhaupt nicht mehr »in den Mund nehmen«. Zu Richard von Weizsäckers »schwer zu begreifender und nicht zu überbietender Egozentrik« falle ihm nichts mehr ein. Mit Rita Süssmuth habe es »immer Krach« gegeben. Und Heiner Geißler wollte die CDU »weiter nach links drücken und eine schwarze Sozialdemokratie daraus machen«. Die Auseinandersetzung kulminierten 1989 auf dem Bremer Parteitag, den Kohl ohne Rücksicht auf seine Gesundheit trotz urologischen Staus mit Harnkatheder stundenlang unter Schmerzen durchstand. Als er dann den ungarischen Ministerpräsidenten die Grenzöffnung für DDR-Bürger verkünden ließ, »für die wir finanzielle Zusagen gemacht haben«, hatte er gewonnen – »und die Bremer Stadtmusikanten sind heim gegangen«.

Noch vernichtender urteilt Helmut Kohl über politische Gegner. Das Beharren auf der Nachrüstung Anfang der 1980er Jahre war für ihn der Kampf gegen eine »andere Republik«. Viele, die – zum Zeitpunkt des Interviews 2003, also während der rot-grünen Koalition – in wichtigen Ämtern säßen, hätten »damals auf den Straßen herumgeschrien … Ein Großteil der Protagonisten dieser Politik waren schlicht und einfach Vaterlandsverräter.« Das gleiche Verdikt trifft jene, die 1989/90 glaubten, selbst über die Zukunft ihres Landes bestimmen zu können. Sogar die »Allianz für Deutschland«, das Produkt der CDU, »die aus den Gruppen, das waren fast alles Mielkes Informanten, die einen mehr, die anderen weniger«. Und auch seinen gesetzwidrigen Umgang mit Parteispenden rechtfertigt er letztlich ideologisch. Er habe »Waffengleichheit« mit der SPD herstellen müssen, die durch Entschädigungen für Enteignungen in der Nazizeit finanziell viel besser gestellt gewesen sei.

Helmut Kohl sieht keinen Grund, irgendetwas zu beschönigen, sein eigenes Verhalten weich zu zeichnen. Schließlich hatte er Erfolg, gerade mit seiner Härte und Bedenkenlosigkeit. Beinahe genüsslich schildert er, wie er schon mit seiner massigen Erscheinung Wirkung erzielte: »Wenn Sie meine Statur haben und dazu meine Art, so zu sein wie ich bin, dann empfinden das vielleicht andere als eine Dominanz, die schwer zu ertragen ist.« Zum Beispiel Wolfgang Schäuble: »Er saß in seinem Wägelchen und war gehemmt, und der andere schien zumindest kraftstrotzend zu sein.« Das Amt des Bundeskanzlers traute er ihm dann auch nicht zu; vor allem das Projekt des Euro konnte aus seiner Sicht nur er durchsetzen: »Wenn ich gegangen wäre, hätte der Euro seine Entwicklung mit Sicherheit nicht genommen … Schäuble hätte, neu im Amt, die gleiche Durchschlagskraft wie ich nicht gehabt«.

Selbst auf seine Familie nahm Kohl keine Rücksicht. Er wusste um die unheilbare Krankheit seiner Frau, er wusste, dass sie über Selbstmord nachdachte, aber er konnte sich aus der Politik nicht lösen. »Der Bundestag war gerade nach Berlin umgezogen und ich habe in der Familie gesagt: Erst hat er die ganze Zeit Propaganda für Berlin gemacht, und nun setzt er sich ab. Das war für mich nicht sehr erfreulich.« Er nahm eine zweite Wohnung in Berlin, doch immer seltener konnte ihn seine Frau dorthin begleiten. Ihr Bild im Rücken, beantwortet er die Frage, ob er ihr etwas schuldig sei, abwehrend – und dann: »Jetzt lassen wir das Thema … Jetzt ist es genug.«

Ob damals oder jetzt vor Gericht: Die Überzeugung von der Richtigkeit seines Tuns lässt sich Helmut Kohl durch keinen Zweifel trüben.

(Erschienen in »Neues Deutschland« vom 2. April 2015)

One Reply to “Helmut Kohl wird 85: Vermächtnis eines Machtmenschen”

  1. Mit dem Namen Helmut Kohl ist das Schicksal von Millionen Deutschen seit der „Wende“ untrennbar verbunden. Dauerhafter Verlust des Arbeitsplatzes und damit der Lebensplanung sehr vieler Bürger aus der ehemaligen DDR, damit einhergehende massenhafte Zerstörung von Familienbeziehungen, Millionenflucht junger und mittlerer Jahrgänge von Ost nach West, Verödung ganzer Landstriche durch Entvölkerung, Förderung der Denunzierung und damit der inneren Zwietracht („Gauck“-Behörde), vermehrte Selbsttötungen aus Verzweiflung.
    Besonders schmerzhaft bleiben die Sätze in Erinnerung, die Bundeskanzler Kohl am 01. Juli 1990 in einer Fernsehansprache äußerte (auf die neuen Bundesländer bezogen): “ … schon bald wieder in blühende Landschaften zu verwandeln, in denen es sich zu leben und zu arbeiten lohnt … (und) „… Es wird niemanden schlechter gehen als zuvor – dafür vielen besser …“
    Diese Prognosen haben sich schlichtweg als Lügen erwiesen. Nach einem Vierteljahrhundert (!) ist noch keine soziale Angleichung zwischen West und Ost erfolgt. Die (nun unsichtbare) Mauer ist damit erhalten geblieben!
    Historisch gesehen ist diese „Transformation“ in Europa leider als einmalig zu sehen. Die Folge ist der wachsende Unmut der Bevölkerung im Beitrittsgebiet. Gerade der Enkel- und Urenkelgeneration ist das Schicksal ihrer eigenen Vorfahren keineswegs egal (wie erhofft wurde). Langsam kommen nun auch die Demütigungen und Täuschungen der „Wende-Zeit“ gegenüber den DDR-Bürgern konkret zur Sprache.
    Warum gab es keine Volksabstimmung zum Beitritt der DDR zur BRD?
    Die Volkskammer der DDR dufte von sich aus diesen Schritt (laut gültiger Verfassung der DDR) gar nicht vornehmen! Der „2 plus 4 Vertrag“ war kein „Friedensvertrag“ zwischen den Siegermächten und Deutschland. Lothar de Maiziere glaubt heute noch daran, einen derartigen Vertrag unterschrieben zu haben. Kohl-Berater Teltschik sagte dagegen im Deutschlandfunk (2015): „Wir wollten gar keinen Friedensvertrag – sonst hätten wir Reparationen an die 20 Staaten zahlen müssen, die uns bis 1945 den Krieg erklärt hatten!“ Die politischen Tricksereien des Herrn Kohl.
    Privat ist dieser „Europäische Ehrenbürger“ doch nicht anders verfaßt: Flick-Affäre, Leuna-Deal, Parteispenden-Skandal … Darüber kann sich der sonst gern bieder gebende, klerikal-konservative Alt-Kanzler zum Choleriker steigern.
    Der „Spiegel“ zeigte auf einem Titelbild vor Jahren „den sitzenden Koloß Kohl“ mit Rissen durchzogen. Bald wurde daraus – Dank der „Wende“ – ein zunehmend unkenntlicher Steinhaufen im Schotterfeld der Geschichte.

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