Weißenseer Doppelspitze

(pri) In »Sepp Maiers 2-Raum-Wohnung« regiert derzeit König Fußball. Das Etablissement in der Berliner Langhansstraße bietet aber viel mehr.

 

An dieser Adresse ist fast alles Fake. Ein Sepp Maier wohnt hier nicht, wohnte hier nie. Das Domizil des Sepp Maier, um den es hier geht, liegt im oberbayerischen Hohenlinden. Er ist eine urbayerische Fußballlegende, der von 1959 bis 1979 Torwart des FC Bayern München war und 95-mal Nationaltorhüter, der Weltmeister, Europameister, mehrmals Deutscher Meister wurde und nach Beendigung seiner aktiven Laufbahn noch bis 2008 als Torwarttrainer dem Bayern-Club und der Nationalelf diente. Wie sollte er da in den Berliner Vorstadt-Kiez Weißensee kommen?

Achim Seuberling, Sepp-Maier-Fan, hat eine preisgekrönte Kulturstätte aus seiner »Wohnung« gemacht.

Das Quartier ist auch keine richtige Wohnung. Zwar verfügt die 80-Quadratmeter-Immobilie über ein großes Wohnzimmer und ein kleineres Nebengelass, dazu Miniküche und Toilette, aber hier drängen sich viel öfter als in einem gewöhnlichen Appartement des Abends Gäste, wildfremde darunter. Auch wechselt in auffällig schneller Folge die Dekoration, mal ambitionierte Malkunst, mal bunte Plakate, mal lebenspralle Fotos. Und an manchem Vor- und Nachmittag dringen lautes Kinderlachen und Anfeuerungsrufe durchs geöffnete Fenster. Dann spielt ein Kindertheater für Kita-Gruppen und andere Interessierte. Jetzt, da gerade wieder eine Fußball-Weltmeisterschaft stattfindet, ist die gute Stube fürs Public Viewing geöffnet.

Das Geheimnis der seltsamen Anschrift kann nur einer lüften: der Mieter selbst. Achim Seuberling tut es gern, hat er doch seine Bleibe ausdrücklich zu einem öffentlichen Raum erklärt, zu einem Kunst- und Kulturprojekt, das inzwischen im Stadtbezirk eine Institution ist, geadelt durch diverse Auszeichnungen. Dass Sepp Maier ihr etwas ungewöhnlicher Namenspatron ist, hat mit Seuberlings Herkunft wie Sportbegeisterung zu tun. Er stammt aus Franken und war in seinem Heimatverein FC Mainroth einst selbst der Schlussmann, gerade zu Zeiten, als Maier Titel und die Herzen der Fußballjugend gewann. Er wurde sein begeisterter Fan und ist es bis heute geblieben – und das nicht nur wegen Maiers fußballerischen Könnens, sondern auch wegen seines Unterhaltungswerts. Der Keeper war nämlich auch ein Spaßvogel, der bei öffentlichen Auftritten stets die Lacher auf seiner Seite hatte. Manche sahen in ihm sogar den »Karl Valentin des Fußballs«.

Solche Dualität faszinierte Seuberling, und deshalb war es für ihn kein Problem, diesen Sportler zum »geistigen Mäzen« seiner Kleinkunstbühne zu machen. Die 2 in ihrem Namen wurde zum Programm. »Das Paar als kleinste gesellschaftliche Einheit, das interessierte mich«, sagt er. »Damit experimentieren, das kultivieren, Widersprüche zeigen, die Entwicklung der Zweisamkeit im Wandel der Zeiten.« Das Spielfeld ist bevorzugt die Musik, eine zweite Leidenschaft Seuberlings, der in der Blaskapelle seines Dorfes und später in einer Band Saxofon spielte.
Und so treten in der 2-Raum-Wohnung nur Duos auf: Sängerinnen oder Sänger mit Instrumentalbegleitung, aber auch zwei Instrumente in Widerstreit, Musicalclowns im Zweierpack – immer zwei, die gut miteinander können; im Fußball wäre das die »Doppelspitze«.

Kürzlich wurde das zehnjährige Jubiläum gefeiert, wozu Seuberling die über 100 Plakate seiner Duos ausstellte und die Musikanten gleichzeitig einlud, die Vernissage mit einem Ständchen zu bereichern. Einige waren zwar gekommen, aber allzu wenige, wie der Hausherr fand. »Hier war eben für viele das Sprungbrett«, tröstete einer aus dem Publikum augenzwinkernd, »die sind jetzt überall in der Welt unterwegs.« Und: »Hier sind heute nur die Verlierer.«

Solche Selbstironie dürfte dem 54-jährigen Kulturmanager nicht unbekannt sein, hatte doch sein eigener Weg nach Berlin kaum etwas von einer glatten Straße. Da er selbst Musiker werden wollte, studierte er an einer Berufsfachschule und wurde »staatlich geprüfter Leiter im Laienmusizieren«. Einige Semester Jazz folgten, aber zum Broterwerb reichte das nicht. Als auch noch sein Vater starb, ließ er sich an der Fachhochschule Nürnberg zum Sozialpädagogen ausbilden. »Meine erste Wahl war das nicht, aber jetzt passt es ganz gut.« Er lässt die Augen durchs gerade ziemlich leere Wohnzimmer schweifen: »Das ist ja auch irgendwie ein Projekt des Sozialwesens.«

Nach dem Diplom zog es ihn wieder auf die Bühne, und er war sich dabei für nichts zu schade. Er musizierte, schauspielerte, sorgte für guten Ton oder effektvolle Beleuchtung. Dann heuerte er bei einem fahrenden Zelttheater an, war dort drei Jahre lang für die Technik zuständig. Irgendwann lernte er ein Mädchen aus Berlin kennen und ging kurz entschlossen in die Hauptstadt, wieder als Techniker beim Podewil, den Sophiensälen. Doch an einem Schauspieler – sein Wunschtraum – hatte man dort keinen Bedarf. Er kam in eine Krise, brauchte Zeit, sich wiederzufinden.

Sepp Maier, das Idol der Jugend und der Heimat, könnte dabei der Rettungsanker gewesen sein. Zumal er bei der Wohnungssuche auf einen Gleichgesinnten getroffen war, einen Hauseigentümer, auch aus Bayern, auch Fußball-Begeisterter, auch Maier-Fan. Er vermietete ihm schließlich ein Quartier zu erträglichen Konditionen. Kaum eingezogen, lief Seuberling eine schwarze Katze zu. Die »Katze von Anzing« war Sepp Maier einst genannt worden. Er nahm es als Zeichen und nannte sein neues Zuhause nach ihm. Er schüttelt seinen Lockenkopf: »Da muss man schon ziemlich verrückt sein.« Ella, die Katze, hat inzwischen Kultstatus. Sie versäumt kein Konzert und sucht sich stets ein Plätzchen, von dem aus ihr nichts entgeht.

Mancher würde Seuberling vielleicht einen Lebenskünstler nennen. Ein anderer in ihm einen immer wieder Gescheiterten sehen. Doch weder das eine noch das andere Urteil wird Seuberlings Ernsthaftigkeit gerecht. Er ist ein Suchender, wobei es ihm nie um den schnellen Erfolg geht, sondern immer um etwas Sinnvolles – und etwas mit Qualität. So hat er eine professionelle Kultureinrichtung aus seiner »Wohnung« gemacht, ohne kommerzielles Interesse. Er verlangt keinen Eintritt, bittet nur um Spenden für die Künstler und die Getränke. Man soll die Güte des Gebotenen mit seinem Obolus würdigen, auch beim Wein, der vom Winzer kommt.

Vor allem aber bei den Auftretenden, denen er angemessene Honorare zahlen möchte. Deshalb gründete er den »Vereinsmaier e.V.«, dem jeder beitreten kann, der sein Projekt unterstützen will. Zudem braucht er Fördermittel aus allerlei Töpfen; diese zu öffnen, verlangt harte Arbeit. Einmal am Programm, was ihm großen Spaß macht. Er hat inzwischen viele Fäden gesponnen, zu Künstlern, aber auch zu Läden und Gaststätten, zu denen er seine Plakate bringt, um für die Veranstaltungen zu werben. Mit Hausbewohnern und Nachbarn spricht er über das Programm. Eine Folge: Bläserduos treten selten auf und Schlagzeuger noch seltener.

Weniger Freude machen Verwaltungsarbeit, Förderanträge, Nachweise über Verwendung der Mittel, die Vereinsbuchführung. Dafür könnte er Hilfe gebrauchen; am besten wäre eine Stelle, die er aus einem festen Etat bezahlen könnte. Zwar denken Senatskulturverwaltung und das Bezirksamt Pankow darüber nach, doch noch muss sich Seuberling Jahr für Jahr um die Förderung neu bewerben. Letzthin zwar mit Erfolg: 2016 und 2017 erhielt die 2-Raum-Wohnung den Spielstätten-Programmpreis der Bundesregierung und im vergangenen Jahr zusätzlich die Auszeichnung »Best Artist Development«. Für beide Preise gab es Geld, das Seuberling umgehend an die Künstler weitergab. »Was ich im nächsten Jahr zur Verfügung habe, weiß ich nicht, und das macht die Planung schwierig.«

Wobei er genug Ideen hat, zum Beispiel 2015, als die Flüchtlinge kamen. Da er seine Wohnung auch als Ausstellungsraum versteht, hatte er sofort die Idee, Zeichnungen der zahlreichen Kinder zu zeigen. Er bat darum, Bilderrahmen zu spenden. Künstler halfen, alles in die rechte Form zu bringen und so konnte man sieben Wochen lang sehen, was den Kindern der Geflüchteten wichtig war: Blumen, die Sonne, das gemeinsame Spiel, ihre Sehnsüchte. Viele der 100 Zeichnungen wurden versteigert und brachten einen Erlös von 1000 Euro für Besuche der Kinder im Kino, in einem Spielparadies, für Sprachkurs-Materialien und anderes. Auch Musiker und Sänger hatte Seuberling gefunden und organisierte ein Konzert. Da es die Möglichkeiten der 2-Raum-Wohnung sprengte, tat er sich mit dem nahe gelegenen Jugendklub OC23 zusammen. Zehn Musiker spielten vor über 200 Besuchern, und alle vergaßen für Stunden den Krieg und die Flucht, sangen mit, tanzten, waren in ausgelassener Stimmung.

Sepp Maier hätte das vielleicht gefallen; aber der Namensgeber war noch nie in »seiner« 2-Raum-Wohnung. Seit ihm Seuberling online seine Programme schickte, fürchtet er wohl, als unfreiwilliger Sponsor in Anspruch genommen zu werden. »Sind Sie der Verrückte, der mir immer diese E-Mails schickt?« fragte er erbost, als ihn sein Fan einmal sogar anrief. Dabei wollte Seuberling nur wissen, ob er die Namensgebung akzeptiere. »Passt schon«, brummte es zurück. Ansonsten jedoch ist der Ex-Nationaltorwart in Weißensee ganz anders präsent. Er ist Schirmherr des Golf Resort Berlin Pankow am nördlichen Rand des Stadtbezirks; jährlich wird dort ein Sepp-Maier-Turnier ausgetragen. Wer als Gast teilnehmen will, muss 120 Euro auf den Tisch legen.

Das ist fast ein Viertel des Honorars für einen Auftritt in der Langhansstraße. Achim Seuberling seufzt und mag ahnen, dass er und sein Idol zu einem Duo wohl nicht werden. Die Treue hält er ihm dennoch, gerade jetzt, wenn an der weiß getünchten Zimmerwand allabendlich der Ball rollt. Es ist ein eher intimes Fußball-Gucken. »Auf Fahne schwenken, Deutschland-Party, Ballermann-Stimmung habe ich keinen Bock«, sagt Seuberling. Seine Wohnung soll schließlich eine Kulturstätte bleiben.

(Veröffentlicht in: »Neues Deutschland« vom 23.06.2018)