Rezo und das Elend der Leitmedien

(pri) Wenn es einem jungen YouTuber gelingt, mit einem einzigen Video eine Kampagne in Gang zu setzen, die nicht nur in wenigen Tagen zwölf Millionen Interessenten findet, sondern am Ende auch noch dazu führt, dass die Parteien der Groko hohe Verluste bei der Europawahl verzeichnen müssen, dann hat er wohl ins Schwarze getroffen. Bei den von Rezo vor allem angesprochenen jungen Wählern bis 24 Jahren verlor die CDU 15 Prozent der Stimmen, die SPD 13 Prozent. Zugute kam dieser Aderlass vor allem den Grünen, die in dieser Altersgruppe 19 Prozent zulegten und erstmals zur zweitstärksten Partei hierzulande wurden.

Zugute kommt diese Entwicklung aber auch der demokratischen Kultur, denn nicht nur stieg die Beteiligung an einer Europawahl von vor zehn Jahren 43 und 2014 48 Prozent auf 62 Prozent – ein Wert, der zuletzt 1989 (!) erreicht wurde. Das versehen die etablierten Parteien zwar mit Lob, aber sehr ernst scheint das nicht gemeint. Denn gleichzeitig beargwöhnen sie das Engagement des Bloggers Rezo und rücken es in die Nähe von »Populismus«, unter dem inzwischen alles – ob rechts oder links – subsumiert wird, was von der Mainstream-Meinung etwas deutlicher abweicht. So beklagte denn auch Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) mit Blick auf das Rezo-Video mit dem Titel »Die Zerstörung der CDU«, »der Siegeszug des Internet, die sozialen Netzwerke« erschwerten »den Austausch von Meinungen, weil jeder in seiner Filterblase bleibt. Dadurch wird es schwer, zu Entscheidungen zu kommen«.

Die etablierte Politik schätzt Engagement letztlich nur dann, wenn es ihr zustimmt, sie unterstützt. Dieses Engagement ist hingegen lästig, wenn es – O-Ton Schäuble –- »vor lauter Bedenken und Debatten nicht mehr zu Entscheidungen kommt«. Diese Position des Bundestagspräsidenten steht nicht gerade für demokratische Gesinnung, denn sie verrät eine gewisse Sehnsucht nach der gleichförmigen Meinung, der Vereinbarung auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner als grundsätzlich erstrebenswertem Ideal.

Bislang ließ sich eine solche Einheitsmeinung in der Regel herstellen – entweder auf der Basis staatlicher Autorität bis hin zur Meinungsdiktatur oder, weil es doch demokratisch aussehen sollte, über ein ausgeklügeltes System der Meinungsbeeinflussung, in dem viele Akteure ihre Rolle spielen: vor allem regierungsamtliche Behörden, aber auch Schulen, Kirchen, Verbände und Vereine, nicht zuletzt Medien, die sich der herrschenden Meinung verpflichtet fühlen – aus Überzeugung oder Pragmatismus.

Gerade die Medien hatten bisher eine Monopolstellung bei der Beeinflussung der öffentlichen Meinung. Nur sie verfügten über die notwendigen finanziellen Mittel und die technischen Möglichkeiten, auf große Menschengruppen einwirken zu können. Mit dem Internet und der rasanten Entwicklung der sozialen Netzwerke hat sich dies grundlegend gewandelt. Jetzt kann jeder seine Meinung artikulieren, ein Forum finden, sich mit Gleichgesinnten, aber auch Andersdenkenden direkt auszutauschen. Nicht einige wenige Privilegierte bestimmen den Diskurs, sondern jeder kann sich daran beteiligen.

Diese neue Möglichkeit führte zunächst zu einem gewissen Wildwuchs; ihre Spontaneität hatte und hat auch negative Begleiterscheinungen. Allmählich jedoch beginnt sich der zusätzliche Meinungsstrom zu strukturieren; er wird überlegter, ernsthafter. Gerade das Rezo-Video ist dafür ein treffendes Beispiel, denn es argumentiert anhand konkreter, nachgewiesener Fakten fast eine Stunde lang und bezieht gerade daraus seine Wirksamkeit. Nicht Fake News oder Verschwörungstheorien werden geboten, sondern Tatsachen, wissenschaftliche Erkenntnisse, gesichertes Wissen.

Damit jedoch werden die sozialen Netzwerker zu einer Gefahr für die etablierte Politik, weil diese durch sie ihre Deutungshoheit, ihre Meinungshoheit verliert. Gewohnt, ihre Politik vordergründig zu propagieren, sieht sie sich jetzt einem Konsumenten auf Augenhöhe gegenüber, dem sie mit Behauptungen und Pseudobelegen nicht mehr beikommt. Geradezu mustergültig entlarvt Rezo die Methode, nicht nach Vernunftgründen, sondern nach Interessenlagen zu handeln, wobei letztere in der Regel jene der ökonomisch oder politisch Mächtigen sind. Die sich daraus ergebenden falschen Entscheidungen werden dann mit einer Aura der Alternativlosigkeit versehen, was jedoch nicht mehr verfängt, sobald die zugrunde liegenden Fakten im Prinzip jedermann zugänglich sind.

Doch auch jene Medien, die sich als Teil des Herrschaftsapparats verstehen, werden als solche entlarvt. Sie reagieren nervös und allergisch, spüren sie doch, dass sie die ihnen zugedachte Funktion nicht mehr realisieren können. In einem Kommentar ist der Feuilleton-Chef der Berliner Zeitung zwar nicht in der Lage, auch nur ein einziges der Argumente Rezos zu widerlegen, aber er weiß: »Um Argument und Analyse geht es gerade nicht ..« Und: »Bloß nichts Kompliziertes, was den Umfang einer Twitter-Botschaft überschreitet …« Immerhin widerlegt er seine Desinformationen gleich selbst, wenn er auf die zahlreichen Grafiken und Statistiken verweisen und einräumen muss, dass angesichts dessen die »politische Willensbildung« überfordert ist. So arbeitet er sich an Äußerlichkeiten ab, an »erregter Hip-Hop-Attitüde«, »sexualisierten Kraftausdrücken« und »kraftstrotzend-männlicher Checker-Pose«. Assistiert wird er im Nachrichtenteil des Blattes durch die beflissene Nachweisführung darüber, was Rezo alles nicht erwähnte – bis hin zu solch hanebüchener Argumentation, dass sich aus NATO-Mitgliedschaft und Beistandsklausel für die Bundesrepublik die Verpflichtung ergebe, auch an völkerrechtswidrigen todbringenden Drohneneinsätzen mitzuwirken. Auch andere »Qualitätsmedien« suchten fieberhaft nach Fehlern und Ungenauigkeiten im Video – ein Eifer, den sie bei der Bewertung regierungsamtlicher Verlautbarungen nur selten an den Tag legen.

Der Vertrauensverlust, den die sich als Leitmedien gerierenden Zeitungen und Sender schon seit Jahren zu verzeichnen haben, kann sich auf diese Weise nur fortsetzen. Und beschleunigen, wenn eine zunehmend politisierte junge Generation die Möglichkeiten des Internets in seriöser Weise nutzt, um dem Verlautbarungsjournalismus eigene Recherche und Faktendarstellung entgegen zu setzen. Wie hilflos Politik und auf die neoliberale Regierungspolitik eingeschworene Medienhäuser solcher Entwicklung gegenüberstehen, zeigt sich nicht nur an der unsouveränen Reaktion auf das Rezo-Video, sondern am sofort ergehenden Ruf nach Gesetzen. Abgeordnete seien in einer »idealen Position, um grundsätzliche Dinge zu ändern. Desinformation im Netz kann durch Gesetze erschwert werden«, schrieb die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung unverblümt, wohl wissend, dass man für die Entscheidung, was »Desinformation« ist eine Zensurbehörde braucht.

Die CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer griff solchen Vorschlag sogleich begierig auf und forderte vor Wahlen die Regulierung von Meinungsäußerungen im Internet. Wenn 70 Zeitungsredaktionen vor einer Wahl dazu aufriefen, nicht CDU oder SPD zu wählen, sagte sie heute, würde dies als »klare Meinungsmache vor Wahl« eingestuft. Man müsse darüber reden: »Was sind Regeln aus dem analogen Bereich und welche Regeln gelten auch für den digitalen Bereich.« Bisher waren es Putinsche Trolle, die gern für unerwünschte Wahlergebnisse verantwortlich gemacht wurden; jetzt steht der Feind offensichtlich bereits im eigenen Land – und es ist ausgerechnet dessen junge Generation.

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