Jahrhundert-Rückschritt

(pri) In den 1980er-Jahren schuf Wolfgang Mattheuer seine Groß-Plastik »Der Jahrhundertschritt« als Symbol des ablaufenden Zentenniums. »Ein nacktes Bein, weit ausgreifend. Ein Stiefelbein, ein schwarzer Arm mit Heil-Geste aus körperloser Mitte schießend und eine Faust am erhobenen zweiten Arm machen aus vier Extremitäten eine rasende Figur.« So beschrieb er die Skulptur und fragte: Was ist das? Seine Antworten zugleich Fragen an uns alle: »Hilfloses Wüten? … Chaos? Auferstehung? Kriegsrecht?«

Es war die Endzeit des Kalten Krieges, schon bald schien eine neue Epoche zu beginnen. Hoffnungen wurden plötzlich weit ausgreifend. Die erhobene Faust senkte sich zur ausgestreckten Hand. Für einen Moment wurden dahinter Stiefelbein und schwarzer Arm unsichtbar. Nicht für lange, denn mit dem Verschwinden der gesellschaftlichen Alternative schrumpfte das Bildwerk zum Torso und verlor seine Balance. Mattheuer hatte auch eine Antwort ohne Fragezeichen gegeben: »Verlust der Mitte!«

Seit mehr als 30 Jahren gibt es wieder nur noch eine Herrschaft, die Herrschaft des Geldes. Und wo das Geld regiert, kann Friedfertigkeit nicht gedeihen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts fühlten sich imperiale Mächte stark genug, die Welt unter sich neu aufzuteilen – und steuerten in den ersten Weltkrieg. Dahin kehrte die Welt am Ende jenes Jahrhunderts zurück. Erneut herrschen jetzt imperiale Staaten, ob allein oder in Bündnissen, und wieder fühlen sie sich stark genug zur Neuaufteilung der Welt.

Der sozialistische Versuch begann mit einem »Dekret über den Frieden« und folgte der Utopie des Kommunistischen Manifests, dass mit dem Gegensatz der Klassen im Innern auch »die feindliche Stellung der Nationen gegeneinander« falle. »Proletarier aller Länder, vereinigt euch!« hieß die internationalistische Losung. Das aber gelang bereits in der Sowjetunion nicht. Schon bald musste Lenin vor dem »großrussischen Chauvinismus« warnen; anfangs tat das sogar Stalin, der ihn später selbst brutal praktizierte. Dennoch gab es immer wieder neue Anläufe zu nationaler Harmonisierung, gerade auch zwischen Russen und Ukrainern. Aber aus den Köpfen bekamen sie ihre einstige Rubrizierung als »Großrussen« und »Kleinrussen« nicht; das braucht wohl mehr als ein Jahrhundert, auch weil sich dagegen so wirksam Politik machen lässt.

Mit dem Ende des Sozialismus suchten die Völker der Sowjetunion nach einem neuen Standort; es konnte nur einer im Konkurrenzsystem des Kapitalismus sein, mehr oder minder angelehnt an die neuen Imperien oder selbst als ein solches. Aber einen »guten« Imperialismus gibt es nicht, ganz gleich, mit welchen Girlanden er sich schmückt.

Und so schlägt wieder das Stiefelbein den Takt, da und dort streckt sich erneut der schwarze Arm, die rasende Figur in neuer Bewegung. Wie vor mehr als 100 Jahren – obwohl wir heute wissen, was daraus folgt …

Schreibe einen Kommentar