Bei der Kriegsschuld-Debatte zur Ukraine sieht der Westen ziemlich schlecht aus

(pri) Seine Mitschuld am russischen Angriff auf die Ukraine leugnet der Westen – gleich zwiefach – nicht und wirft damit die Frage auf, wie es zu solch einem eklatanten Politikversagen kommen konnte.

Dass die Hauptverantwortung für den verbrecherischen russischen Krieg gegen die Ukraine bei der Führung in Moskau liegt, ist nicht zu bestreiten. Noch zehn Tage vor Kriegsbeginn hatte Russlands Außenminister Lawrow dafür plädiert, die Gespräche mit dem Westen fortzusetzen und zu verstärken. In einem vom Fernsehen übertragenen Treffen hatte Putin seinen Außenamtschef gefragt: »Gibt es eine Chance, mit unseren Partnern eine Einigung in wichtigen Punkten zu erlangen oder ist dies ein Versuch, uns in einen endlosen Verhandlungsprozess zu ziehen?«

Lawrow erwiderte: »Unsere Möglichkeiten sind bei weitem noch nicht erschöpft.« Aber der Präsident schaute über seinen langen Sitzungstisch, an dessen Ende ein respektables Resultat kaum noch zu erkennen war und machte aller Hoffnung eine Ende, indem er das Mittel der Gewalt wählte – mit allen jetzt sichtbaren und sich von Tag zu Tag eskalierenden schrecklichen Folgen.

Ungeachtet dessen ist jedoch die Kriegsschuld-Debatte auch im westlichen Lager angekommen. Zuerst bei der SPD, wo sie inzwischen bis zu Frank-Walter Steinmeier reicht, dem amtierenden Bundespräsidenten. In Kürze wird sie die Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel einholen, die die Richtlinien auch der Außenpolitik bestimmte und an wesentlichen Vereinbarungen mit Putin beteiligt war. Der Vorwurf: Man habe über Jahre hinweg alle Signale aggressiver Expansionspolitik, die von Russland ausgingen, ignoriert und in naivem guten Glauben an einer verfehlten Ostpolitik festgehalten anstatt von Anfang an klare Kante zu zeigen und die erforderlichen Vorbereitungen auch für eine militärische Konfrontation als Maßnahme der Abschreckung zu treffen.

Diese Lesart wird vor allem vom ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj und seinem Botschafter in Berlin befeuert, die sich offensichtlich – drastisch gesprochen, wie sie es selbst bevorzugen – vorkommen wie der Affe, der mit der Banane aus dem Urwald gelockt wurde und plötzlich allein dastand, als die Löwen kamen. Aber auch die Medien beteiligen sich an der Jagd auf die üblichen Verdächtigen, wenngleich sie ihre neuen Weisheiten bis zum 24. Februar weitgehend für sich behalten und weder Steinmeier noch Merkel als Putin-Versteher gebrandmarkt hatten. Jetzt aber versucht man all jene als Schuldige dingfest zu machen, die nicht die notwendigen harten Schlüsse aus der russischen Politik gezogen haben.

Von Schuld sprechen freilich auch andere, wenngleich mit völlig anderem Tenor. Sie meinen, der Westen habe die Erklärungen und Handlungen Putins nicht als Zeichen seiner Sehnsucht nach einem friedlichen, auskömmlichen Verhältnis wahrnehmen wollen und auf diese Weise dessen Unzufriedenheit in Aggressivität umschlagen lassen – so wie ein Kind sein nicht erwidertes Streben nach Beachtung und Zuneigung irgendwann in unangepasstes Verhalten und gewalttätige Angriffslust verändert. Diese Kritiker westlicher Politik berufen sich auf den Friedensnobelpreisträger Willy Brandt und seinen Vordenker Egon Bahr und argumentieren mit deren erfolgreicher Politik, ohne die eine deutsche Wiedervereinigung undenkbar gewesen wäre.

Welcher Version man auch zuneigt, beide gehen von westlicher Schuld aus, beide monieren, wenn auch in verschiedener Weise, der Westen habe nicht rechtzeitig reagiert. Damit stellt sich so oder so die Frage, warum es zu einem solch eklatanten Politikversagen immerhin großer und erfahrener Nationen kommen konnte. Was hinderte die einen daran, sich nach Ende des kalten Krieges für einen heißen aufzurüsten, um gerade diesen zu verhindern? Was vereitelte den damit einhergehenden Verzicht auf Beziehungen, aus denen man einigen Nutzen zog, den man jedoch mit dem Feind in gewisser Weise teilen musste? Glaubten Sie nicht an einen solchen Zusammenhang oder mangelte es ihnen an der Bereitschaft, die Lasten und Entbehrungen zu tragen, die ein solcher Kurs mit sich bringen würde?

Und die anderen. Warum waren sie in einem sentimentalen pazifistischen Wohlbehagen gefangen, obwohl der letzte große Krieg doch schon fast fünfzig Jahre zurücklag und kaum noch schrecken sollte? Weshalb trauten sie der Vernunft mehr als gesundem Argwohn, wo doch die Weltgeschichte dazu keinerlei Anlass gab? Vor allem aber: Wenn sie schon so gutgläubig waren, warum haben sie dann darauf verzichtet, dem Gegner vertragliche Fesseln anzulegen, damit auch er den großen Hammer nicht schwingen konnte, den sie längst beiseite gelegt hatten?

Und die letzte Frage: Wer so oder so durch die Prüfung der Geschichte rasselt, soll man dem noch bei seinen aktuellen oder künftigen Handlungen trauen? Muss man nicht fürchten, dass dem Versagen in relativ ruhigen Zeiten die Katastrophe in der Drucksituation zwingend folgt? Eine beruhigende Antwort darauf gibt es bislang nicht.

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