Vor 21 Jahren – Streit um die Hoheit über Menschenrechte

Heute vor 60 Jahren wurde von der UNO-Vollversammlung die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verkündet. In der Endphase der DDR entwickelte sich auch dieses Dokument mehr und mehr zu einem Gegenstand der inneren Auseinandersetzung zwischen Staatsmacht und aufkeimender Oppositionsbewegung. Sowohl in ihren internen Debatte, seit 1987 aber auch in öffentlichen Aktionen nahmen oppositionelle Gruppen immer öfter Bezug auf die Menschenrechte – und gerieten damit schnell in Konflikt mit dem Staat und der Staatspartei SED, die die alleinige Deutungshoheit über die Menschenrechtsfrage für sich beanspruchten.

Ein deutlicher Ausdruck für diesen zunächst ziemlich ungleichen Streit war eine Aktion, die heute vor 21 Jahren im Zentrum der damaligen DDR-Hauptstadt stattfinden sollte. Bürgerrechtler versuchten am 10. Dezember 1987, dem DDR-offiziellen Komitee für Menschenrechte eine Petition zu übergeben und wollten dies mit einer kleinen Demonstration zu dessen Sitz verbinden. Das rief natürlich die Staatssicherheit auf den Plan, die natürlich zeitig von der Aktion wusste und sie – nachdem weniger drakonische Maßnahmen nicht geholfen hatten – durch prophylaktische Verhaftung der Organisatoren faktisch verhinderte.

Über dieses Ereignis berichtet nachfolgender Terxt, der im Sommer 1990 entstand und die damaligen Ereignisse rekapituliert und in einen größeren Zusammenhang zu stellen versucht. Zwar ist heute das Geschehen vor 21 Jahren gründlicher erforscht als damals, nur Monate danach; dennoch kann diese bislang unveröffentlichte Darstellung neben ihrem dokumentarischen Teil einiges zur seinerzeitigen Atmosphäre am Ende einer Epoche aussagen.

 

 Aufklärer unter Kontrolle

 

Die Bildung der »Initiative Frieden und Menschenrechte« (IFM) Ende 1985 war in Inhalt wie Form ein Akt der Emanzipation oppositioneller Kräfte von der Kirche. Denn bis dahin hatte das Engagement gegen die staatliche Politik fast ausschließlich unter dem Dach der Kirche stattgefunden. Die Aktivitäten Anfang der 80er Jahre waren zum Beispiel mit dem auf einen Bibelspruch zurückgehenden Symbol »Schwerter zur Pflugscharen« verbunden. Sie vollzogen sich in Friedenskreisen, die sich an den Berliner Kirchen wie auch in zahlreichen Städten der DDR bildeten. Einer der aktivsten war schon seit Oktober 1981 der Friedenskreis der Evangelischen Kirchgemeinde Alt-Pankow unter Leitung des Vikars der Sophiengemeinde, Dr. Hans-Jürgen Misselwitz. Seit 1981 gab es auch den Friedenskreis der Samaritergemeinde unter Leitung des Pfarrers Rainer Eppelmann. Anfang 1982 bildete sich an der Gethsemane-Kirche in Berlin-Prenzlauer Berg der »Arbeitskreis für christliches Friedenszeugnis«. 1984 gründete Reinhard Schult den Friedenskreis Berlin-Friedrichsfelde, der in die Kirchengemeinde Berlin-Friedrichsfelde-Ost eingebunden wurde und seit März 1987 den hektografierten »Friedrichsfelder Feuermelder« herausgab. Im evangelischen Gemeindezentrum Berlin-Hohenschönhausen entstand 1986 unter Leitung des Jugenddiakons Schatta der Friedenskreis Weißensee. Ähnliche Gruppierungen formierten sich später an der Bekenntniskirche in Berlin-Treptow, bei der Bartholomäusgemeinde in Berlin-Friedrichshain, an der Christus-Kirche in Berlin-Schöneweide und anderen. Auch nicht zuvörderst aus christlicher Motivation entstehende Gruppen wie der Arbeitskreis »Ärzte für den Frieden« oder der »Freundeskreis Wehrdiensttotalverweigerer« begaben sich unter das Dach der Kirche. »Wir sahen uns als Kirche auch in einer Stellvertreterfunktion, weil es ja offiziell keine Arbeitsmöglichkeiten für eine politische Opposition gab«, erläuterte Probst Dr. Furian die Haltung zu diesen Initiativen, die oftmals nur äußerst geringe Bindungen an religiöses Gedankengut hatten. Damit bot ihnen,die evangelische Kirche Wirkungsmöglichkeiten unter ihrem Schutz; dies aber war mit der – ehr oder minder konsequent durchgesetzten – Auflage verbunden, die Interessen der Kirche zu wahren und deren Arbeitsbedingungen nicht zu beeinträchtigen.

Auch die in der späteren IFM zusammengeschlossenen Oppositionellen nutzten die Kirchen als Wirkungsstätten. So. bereiteten sie im Herbst 1985 ein Seminar zu Menschenrechtsfragen vor. Zunächst aus der unabhängigen Friedensbewegung der DDR hervorgegangen, sahen sie immer deutlicher, dass das Friedensengagement vom Staat in eng begrenztem Rahmen gehalten werden sollte. Immer wenn Aktivitäten einzelner über diese Grenzen – sie waren im Prinzip vom außenpolitischen Kalkül bestimmt, und deshalb sollte sich alles nur auf internationaler Ebene abspielen – hinausgingen, setzte staatliche Repression ein. Daraus wuchs ganz zwangsläufig die Erkenntnis, dass gerade die vorgeschriebene einseitige Orientierung auf internationale Abrüstungsfragen in diesem Land nicht ausreichte, sondern dass innenpolitische, grundlegende gesellschaftliche Fragen ebenso eine Rolle spielen mussten, »Wir haben den Zusammenhang von innerem und äußerem Frieden von Anfang an ziemlich stark persönlich erlebt und dementsprechend auch thematisiert“, beschreib Gerd Poppe später die damalige Situation. Das genannte Seminar sollte den erreichten Erkenntnisstand artikulieren und nächste Schritte beim Kampf um Menschenrechte in der DDR diskutieren. Staatliche Organe, die von der Sache Wind bekamen, übten starken Druck auf die Kirche aus, dafür keine Räume zur Verfügung au stellen, da es weit über religiöse Tätigkeit hinausginge. Und die Kirche folgte diesem Argument – teilweise wohl auch aus eigener Überzeugung, denn die Menschenrechtsaktivisten hatten stets ihre Unabhängigkeit von der Kirche betont.

Gerd Poppe, Bärbel Bohley, Werner Fischer, Wolfgang Templin, Peter Grimm, Ralf Hirsch und aridere aber blieben an der Sache dran, diskutierten in kleineren Gruppen und fanden so immer stärker zusammen, Ihre Gedanken formulierten sie in einem Papier, das im Januar 1986 – auch durch Vermittlung westlicher Medien – in die Öffentlichkeit gelangte. Ein Vierteljahr später traten sie mit einer »Eingabe an den XI. Parteitag der SED« erneut hervor; sie forderten hier erstmals in aller Deutlichkeit einen öffentlichen Dialog zwischen SED und oppositionellen Kräften. Ab Sommer 1986 erschien dann der »Grenzfall« als Publikation der IFM, der zugleich das Ziel der Sammlung der noch weitgehend zersplitterten Opposition verfolgte. Damit hatte sich erstmals in der DDR eine Gruppe etabliert, die zwar Wirkungsmöglichkeiten in Gotteshäusern auch weiterhin nutzte, jedoch völlig klar machte, dass sie außerhalb der Kirche stehen und sich deren Auflagen nicht unterwerfen werde.

Das Ministerium für Staatssicherheit erkannte aus seiner Sicht in den oppositionellen Gruppen frühzeitig eine Gefahr. In seinen »Planvorgaben« für die Jahre 1986 bis 1990, den letzten, die er erstellen ließ, forderte Minister Mielke, die Aufklärungs- und Abwehrtätigkeit vor allem gegen die »Forcierung der Menschenrechtsdemagogie und entsprechende Angriffe gegen die sozialistischen Staaten, Inspirierung oppositioneller und anderer feindlich-negativer Kräfte in sozialistischen Staaten zu antisozialistischen Handlungen und öffentlichkeitswirksamen Aktivitäten, insbesondere unter Bezugnahme auf Fragen der Menschenrechte und Grundfreiheiten, sog. menschlichen Erleichterungen und Begegnungen sowie weitere ›humanitäre‹ Probleme« zu richten. Schwerpunktmäßig sollten »Feindaktivitäten«, nämlich »Inspirierung, Förderung, Unterstützung und Steuerung einer sog. inneren Opposition und politischer Untergrundtätigkeit im Sinne konterrevolutionärer Entwicklungen (Strategie und Taktik, Mittel und Methoden, Steuerung durch Geheimdienste, Zentren der politisch-ideologischen Diversion und andere feindliche Stellen und Kräfte)«, unterbunden werden.

Mit der Bekämpfung so bezeichneter und damit kriminalisierter Handlungen war ein Auftrag erteilt, der in den nächsten Jahren in erheblichem Maße das Potential der Staatssicherheit binden sollte und darüber hinaus zum ständigen Ausbau des geheimen Unferdrückungsapparates führte. Der Irrglaube an die eigene Unfehlbarkeit in der Partei- und Staatsführung der DDR verweigerte anders lautenden Gedanken und Meinungen jegliche Existenzberechtigung; keimten sie dennoch auf, konnte das nur die Saat konterrevolutionärer Feinde sein, die entsprechend bekämpft werden mussten. Die hartnäckigen Aufklärer in den oppositionellen Gruppen, die angetreten waren, neben dem Frieden auch die Freiheit zu propagieren, die Demokratie, Menschenrechte, Umweltschutz nicht nur als bloße Lippenbekenntnisse gelten lassen, sondern zu gesellschaftlicher Realität machen wollten, sahen sich von Anfang an drakonischer Verfolgung ausgesetzt. Das Ziel Mielkes war es, so er sie schon nicht zerschlagen konnte, diese Gruppen unter strikter Kontrolle zu halten und alle Regungen, die aus seiner Sicht die staatliche Macht gefährden konnten, im Keime zu ersticken. Er übersah dabei völlig, dass das Entstehen der »Initiative Frieden und Menschanrechte« – ebenso wie der kirchlichen und anderer Zusammenschlüsse zuvor und danach – ein objektiver Prozess war, der sich aus den wachsenden Widersprüchen in der DDR-Gesellschaft ergab. Und mehr noch – auch sie waren Reflex .auf die sich in. den osteuropäischen Ländern ankündigenden gewaltigen Umbruchprozesse, von denen die ersten Erdstöße schon 1956 in Ungarn und 1968 in der CSSR zu erleben waren und die Mitte der 80er Jahre mit der Perestroika in der Sowjetunion ein politisches Erdbeben einleiteten.

Nicht zufällig wies Gerd Poppe darauf hin, dass die IFM von Anfang an stärker nach dem Osten als nach Westeuropa orientiert war. Die Friedenskreise an den Kirchen entstanden zumeist als Reaktion auf die Aktivitäten der westlichen Friedensbewegung gegen die Nuklearaufrüstung. Die IFM – mit Gorbatschow konfrontiert, aber auch mit Vaclav Havel und György Konrad, mit. »Solidarnosc« und den Nachfolgern der »Charta 77« – richtete ihre Blicke nach Osteuropa. Hier fand sie ähnliche Probleme wie im eigenen Land und ganz verwandte Losungsansatze, die zu durchdenken und auszudiskutieren waren. »Aus den osteuropäischen Ländern kamen stärkere Impulse, die innergesellschaftlichen Probleme mit den außenpolitischen in Zusammenhang zu bringen – viel stärker als aus dem Westen«, so Poppe.

Für Mielke waren diese Vorgänge nichts als imperialistische Machenschaften, die gegen den von ihm und seinesgleichen zu bestimmenden Gang der Geschichte standen. Daher sah er schon 1986 als eine Hauptaufgabe »die gründliche Aufklärung und vorbeugende Verhinderung der gesamten subversiven Tätigkeit, der konkreten Absichten und Aktivitäten für das weitere Vorgehen gegen den Sozialismus, der dabei zum Einsatz gelangenden Mittel und Methoden sowie der damit beabsichtigten Wirkungen seitens des Imperialismus, besonders seiner Geheimdienste, der Zentren der politisch-ideologischen Diversion und weiterer feindlicher Stellen und Kräfte. Es sind verstärkte Anstrengungen zur Entlarvung und Vereitelung der Pläne, Absichten und Machenschaften zu unternehmen, die auf die Unterminierung der Einheit und Geschlossenheit, die Spaltung und Schwächung der sozialistischen Staatengemeinschaft gerichtet sind.«

Mielkes Berliner Statthalter, Generalmajor Hähnel, scheute sich nicht das auszusprechen, was Mielke noch schamhaft verschwieg, nämlich die inspirierende Kraft des »neuen Denkens« in der UdSSR für die oppositionellen Gruppen: »Gegenwärtig registrieren wir Bestrebungen des harten Kerns der Organisatoren politischer Untergrundtätigkeit, inspiriert durch feindliche Kräfte aus westlichen Staaten, die Forderungen der KPdSU nach einem neuen politischen Denken und. Handeln bei der Gestaltung der sozialistischen Gesellschaft in der UdSSR auf die Innenpolitik der DDR zu übertragen. Mit Eingaben, Positionspapieren, provokatorischen Schreiben an Repräsentanten unserer ‚Regierung, aber auch ausländischer Regierungen, wird versucht, sich als eine politische Kraft darzustellen und den Dialog mit offiziellen Vertretern von Partei und Regierung zu erzwingen. Vor allem durch Angehörige der feindlichen Gruppe ›Frieden und Menschenrechte‹ (Templin, Poppe, Bohley, Fischer) wurden die Begriffe ›Neues Denken‹, ›Umgestaltung‹ und ›Transparenz‹ übernommen und gleichzeitig versucht, einen Gegensatz zwischen UdSSR und DDR, KPdSU und SED zu konstruieren«, sagte er vor der Berliner Bezirkseinsatzleitung im September 1987.

Doch weder die gebetsmühlenartige Wiederholung lebensfremder. Thesen noch die faktische Gleichstellung sowjetischen Gedankenguts mit konterrevolutionären Ideen konnten etwas daran ändern, dass sich nach der IFM weitere Gruppen bildeten, die neben den kirchlichen Kreisen Oppositionstätigkeit leisteten. Vera Wollenberger gründete im Februar 1987 die Gruppe »Gegenstimmen«. Im Grundsatz mit der IFM einig, verfolgte sie jedoch ein klarer umrissenes Ziel, strebte sie nach definierten gesellschaftlichen Veränderungen, während sich die IFM auf die Kritik der bestehenden Verhältnisse konzentrierte. Dieses Gesellschaftskonzept der »Gegenstimmen« war prononciert links und hatte so Berührungspunkte mit entsprechenden westeuropäischen Gruppen, Die . »Gegenstimmen« leisteten eine umfangreiche theoretische Arbeit, deren Quintessenz nach einer Analyse der MfS-Bezirksverwaltung Berlin darauf hinauslief, »dass grundlegende gesellschaftliche Entwicklungen in der DDR nicht in Übereinstimmung mit der marxistisch-leninistischen Theorie stünden«, Dieser letztlich ideologisch geprägte Ansatz unterschied der »Gegenstimmen« in der Hauptsache von der IFM.

Vera Wollanberger gehörte auch zu den Initiatoren der »Kirche von unten« , die sich 1987 im Zusammenhang mit dem Evangelischen Kirchentag in Berlin herausbildete. Diese Gruppierung verstand sich primär als Opposition zum staatlichen System in der DDR, zugleich aber auch als Opposition zur etablierten Kirchenleitung. »Es waren dies junge Leute«, so Bischof Forck, »die meinten, die offizielle Kirche würde die wirklichen Probleme verschleiern? um niemandem weh zu tun.« Aus seiner Sicht war es in Wirklichkeit eine nichtkirchliche Institution, »denn viele von ihnen vertraten auch die Meinung, wenn sie die Möglichkeit zur Opposition in diesem Lande hätten, brauchten sie die Kirche nicht. Diese war also für nicht wenige nur das Dach für ihre Aktivitäten in der Gesellschaft, für ihre Kritik am Staat«. Lange tat sich die Kirche schwer mit diesen Gruppen, aber – wie schon dargestellt – ließen ihr schließlich die Repressalien des Staates gegen die solcherart, aufmüpfige Opposition keine andere Wahl als die Parteinahme. Am 22, April 1988 wurde die »Kirche von unten« als Personalgemeinde von der Leitung der Evangelischen Kirche zu Berlin-Brandenburg genehmigt und registriert.

Für die MfS war natürlich auch die »Kirche von unten« nichts als ein Hort der Konterrevolution. Die Bezirksverwaltung Berlin berichtete über sie: »Sie ist ein organisatorisches Sammelbecken für feindlich-negative Personen, Irregeleitete .und andere von ihnen beeinflusster Kräfte, die besonders offizielle Kirchentage auch außerhalb der Kirche in Berlin-Brandenburg in Anspruch nehmen, um mit ihren Aktivitäten öffentlichkeitswirksam auf ihre Ziele aufmerksam zu machen.« All diese Organisationen waren für das MfS Bestandteile der »politischen Untergrundtätigkeit« (PUT) und damit Ziele seiner operativen Bearbeitung. Wie diese ablief, zeigte das Beispiel der Umweltbibliothek. Es war aber nur der Auftakt einer langen Reihe ähnlicher Repressivmaßnahmen gegen Andersdenkende.

Der nächste Stoß, nur 14 Tage nach dem Angriff auf die Bibliothek, richtete sich gegen die »’Initiative Frieden und Menschenrechte« direkt. Sie wollte aus Anlass des »Tages der Menschenrechte« am 10. Dezember 1987 im staatlich gelenkte Komitee für Menschenrechte in der damaligen Berliner Otto-Grotewohl-Straße eine Petition abgeben, und dieses Anliegen sollte durch Transparente und Sprechchöre auch öffentlichkeitswirksam gemacht werden. Zunächst taten staatliche Organe alles, um über kirchliche Stellen diesen Protest zu verhindern. .Als sich letztere für unzuständig erklärten, erfolgten zunächst eine »Belehrung« derjenigen, die als Initiatoren bekannt geworden .waren, dann die prophylaktische »Zuführung« von acht »Exponenten politischer Untergrundtätigkeit« und schließlich die totale Absicherung des Orten durch Polizeikräfte. Das MfS konnte nun vermelden: »Im Ergebnis der durchgeführten Sicherungsmaßnahmen kann eingeschätzt werden, dass die von Mitgliedern der ›Initiative für Frieden und Menschenrechte‹ geplante öffentlichkeitswirksame Provokation verhindert werden konnte.«

Für Gerd Poppe jedoch war die Aktion mehr als die routinemäßige Verhinderung einer »Provokation«. Immerhin hatte die IFM am Abend des 10. Dezember in der Gethsemanekirche vor ca. 500 Besuchern noch einmal ihre Ziele in konzentrierter Form vorgestellt. Sie erklärte dabei, dass Friedensarbeit für sie auch immer ein Prozess notwendiger gesellschaftlicher Veränderungen sei: »Diese innergesellschaftlichen Veränderungen sind nicht Bedrohung, sondern Vorbedingung für einen stabilen Frieden. Es muss eine breite Öffentlichkeit entstehen, die eine wirksame Kontrolle ausüben kann. Die Entstehung einer solchen kritischen Öffentlichkeit ist abhängig von der Garantie der Menschen- und Bürgerrechte. Die etablierte Macht ist an solchen Veränderungen nicht interessiert oder nur insoweit, wie sie für die Machterhaltung. nothwendig sind. Die Garantie politischer Freiheitsrechte, die wir als unveräußerlich ansehen, kann deshalb nicht von den Herrschenden erwartet werden, sondern muss gegen sie durchgesetzt werden.«

Die IFM sah, wie es in dem Text weiter hieß, zwei große Aufgabenkomplexe in der Gesellschaft:

»1. Herstellung von Rechtsstaatlichkeit, 2. Demokratisierung. Rechtsstaatlichkeit ist für uns nicht identisch mit Einhaltung machtpolitisch motivierter Gesetze, sondern bedeutet, sich gegen jegliche Willkür der Mächtigen zu wenden. Auch ein Teil der sogenannten ›positiven‹ Rechtsvorschriften .ermöglicht Willkürakte, wie das Polizeigesetz, das Ordnungswidrigkeitengesetz usw. Rechtsstaatlichkeit ist. nicht zu trennen:

– von der Garantie der Meinungsfreiheit, Presse- und Medienfreiheit,

– von der damit verbundenen Ausübung einer wirksamen demokratischen Kontrolle,

– von der Abschaffung von Einschränkungen garantierter Rechte,

– von der Abschaffung von Paragraphen des Strafgesetzbuches, die die öffentliche Meinungsäußerung unter Strafe stellen können.

Rechtsstaatlichkeit ist weiter nicht zu trennen von der Existenz unabhängiger Gerichte, von der Einführung einer Verwaltungsgerichtsbarkeit, von der Beendigung der Verletzung der Privasphäre: Telefon- und Postüberwachung ohne richterlichen Beschluss, Abhören von Wohnungen, präventive Festnahmen usw. Rechtsstaatlichkeit muss das Streikrecht garantieren und nicht zuletzt die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit. Die Herstellung von Rechtsstaatlichkeit in diesem Sinne, also politische Grundrechte für alle, ist ein wesentlicher Schritt auf dem Weg zur Demokratie.«

Diene Forderungen – zwei Jahre später im revolutionären Aufbruch des Herbstes 1989 /verwirklicht – waren damals eine erneute offene Herausforderung das Staates, und daher wertete Gerd Poppe die Tatsache, dass sieben Aktivisten der IFM, Wolfgang Templin, Ralf Hirsch, Peter Grimm, Martin Böttger, Reiner Dietrich, Wolfgang Wolf und er selbst, sowie Vera Wollenberger von den »Gegenstimmen« auch noch den ganzen 11. Dezember in Haft blieben, dort intensiv verhört wurden und unter Drohungen zum Stellen eines Ausreiseantrages veranlasst v/erden sollten, als den Versuch, die Gruppe erheblich zu verunsichern, wenn nicht gar au zerschlagen. »Wir hatten angenommen, dass der Staat nach seinen Erfahrungen mit der Umweltbibliothek, vor allem nach der starken Solidarisierung und den öffentlichen Protesten, erst einmal Zurückhaltung üben würde«, sagte Poppe dazu. »Aber das erwies sich als Fehlkalkulation. Das MfS sah darin wohl eine demütigende Niederlage, die schnell vergessen gemacht werden sollte.«

Wenn es dafür in den zugänglichen Unterlagen des MfS bisher auch keine dokumentarische Bestätigung gibt, so spricht doch viel für die Richtigkeit dieser Einschätzung. Denn die nächsten Wochen zeigten deutlich, dass der Staat offensichtlich nur auf eine neue Gelegenheit wartete, mit seinen Opponenten abzurechnen.