(pri) Es ist schon paradox, wenn eine Regierungspartei bei Landtagswahlen massenhaft Wähler verliert und die Vorsitzende dieser Partei zugleich zu einer der Siegerinnen erklärt wird – und das sogar mit einer gewissen Berechtigung. Angela Merkel ist dieses Kunststück (noch!) gelungen, tragfähig auf die Dauer ist es aber nicht.
Denn die Wahlniederlage der CDU speist sich aus zwei ziemlich unterschiedlichen Motivlagen. Zum einen aus der Aktivierung des stets vorhandenen rechtspopulistischen Gedankenguts in der Gesellschaft, das schon seit langem von Soziologen auf etwa 15 Prozent der Bevölkerung beziffert wird. Dessen Träger bildeten bislang einen großen Teil der so genannten schweigenden Mehrheit, die nun aber laut die Stimme erhebt – auf der Straße, im Internet und jetzt auch an der Wahlurne. Das andere, von den Mainstream-Medien oft verschwiegene Motiv ist die Unzufriedenheit großer Teile der Bevölkerung mit der Handhabung der Flüchtlingsproblematik, konkret der immer offensichtlicher werdenden Diskrepanz zwischen Wort (Wir schaffen das!«) und Tat, die sich auf die Abwehr der Flüchtlinge, die Abschottung des Landes und inzwischen auch die Ignoranz des Leids an den mittlerweile geschlossenen Grenzen zur EU beschränkt.
Letztere Unzufriedene wanderten in Baden-Württemberg von der CDU als der Exekutorin solch antihumaner Politik zu Winfried Kretschmann und in Rheinland-Pfalz aus dem gleichen Grunde zu Malu Dreyer. Zwar sind weder Kretschmann noch Dreyer als besonders flüchtlingsfreundlich ausgewiesen, aber sie haben viel glaubhafter als ihre CDU-Widersacher das »Wir schaffen das!« vertreten und sich damit an die Seite der Kanzlerin gestellt. Für viele jener Tausende in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz, die den Flüchtlingen aufopferungsvoll helfen, weil sie das als moralische Pflicht empfinden, war allein dies genug, den Grünen bzw. der SPD ihre Stimme zu geben – und nicht der CDU.
Dass diese Entscheidung Angela Merkel viel weniger traf als ihre Partei, lag zunächst einmal daran, dass sie selbst gar nicht zur Wahl stand. Sie konnte von Berlin aus ihre widersprüchliche Politik verkünden, während die Wahlkämpfer sich positionieren mussten. Sie taten dies als Konservative in erwartbarer Weise – nämlich gegen die Flüchtlinge und damit zumindest partiell gegen das, was ihre Parteichefin verbal verkündete. Das wiederum verunsicherte viele Wähler. In Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz entschieden darauf zahlreiche von ihnen nach ihrem Herzen, also gegen Wolf und Klöckner. In Sachsen-Anhalt, wo die Ablehnung von Flüchtlingen wie Ausländern generell weitaus stärker verbreitet ist als in den meisten westlichen Bundesländern, zog nicht nur die AfD bedeutend mehr Stimmen auf sich, sondern konnte auch CDU-Ministerpräsident Reiner Haseloff mit seiner flüchtlingsfeindlichen Position den Abgang eigener Wähler zur AfD in Grenzen halten und zugleich aus dem Nichtwählerlager selbst etwa ebenso viele für seine Partei gewinnen. Sowohl die Gewinne von Kretschmann und Dreyer als auch die begrenzten Verluste Hasdeloffs verbucht Angela Merkel ungerührt für sich. Taktisch geschickt erhebt sie sich über die Parteiniederungen und betätigt sich als Trittbrettfahrerin der Wahlgewinner.
Sie kann das umso mehr, als durch das Wahlergebnis das bestehende Herrschaftssystem der Bundesrepublik in keinster Weise beeinträchtigt wurde, eher im Gegenteil. Trotz ihres Wählergewinns ist die AfD in der Minderheit, hat allerdings die rechtspopulistische Klientel in Ost wie West zu aktivieren vermocht. Machtpolitisch nützen wird ihr das zunächst nichts; allerdings ist sowohl in Baden-Württemberg als auch in Rheinland-Pfalz mit einer weiteren Rechtsentwicklung zu rechnen. Denn sowohl Kretschmann als auch Dreyer können in ihren alten Koalitionen nicht weiterregieren, müssen sich zur Rechten hin öffnen – unabhängig davon, ob beide die FDP in ihr Bündnis mit SPD bzw. Grünen aufnehmen oder aber künftig mit der CDU regieren. Beide haben nur dadurch gewonnen, dass sie den Koalitionspartner kannibalisierten, was für sie selbst zu einem Nullsummenspiel mit Minustendenz wurde. Kretschmann könnte es sogar passieren, von CDU und FDP ausgebootet zu werden, wenn es ihnen gelänge, die SPD auf ihre Seite zu ziehen.
Ausgerechnet in Sachsen-Anhalt wäre theoretisch ein Gegenentwurf möglich, weil die bisherigen Koalitionspartner CDU und SPD nur mit den Grünen weiterregieren können. Das erforderte allerdings von letzteren eine Standfestigkeit auch gegenüber dem AfD-Druck, die kaum zu erwarten ist. Eher muss man damit rechnen, dass die nur knapp in den Landtag eingezogenen Grünen kompromisslerisch agieren werden – nicht zuletzt mit Blick auf die Linkspartei, die im Lande zwar am entschlossensten gegen die AfD Position bezog, an den Wahlurnen dafür jedoch keinen Kredit bekam.
Dass die Linke am Wochenende zur größten Wahlverliererin wurde, ist zwar tragisch, hat aber auch seine Logik. Darin spiegelt sich nicht nur die Rechtstendenz in der Gesellschaft, sondern auch das Unvermögen, aus Protestwählern für die Partei in zahlenmäßiger Größe Stammwähler zu machen. Vor allem aber schlagen Versäumnisse der Partei in der Vergangenheit zu Buche. Obwohl die allgemeine Unzufriedenheit besonders in den östlichen Bundesländern seit Jahren zu greifen war, verstand die Linkspartei es nicht, die wirklichen, nämlich die sozialen Ursachen dieser Unzufriedenheit zu artikulieren und grundsätzliche Fragen gesellschaftlicher Entwicklung auf die Tagesordnung zu setzen. Ihr Bestreben, als ein weiterer Arzt am Krankenbett des Kapitalismus zu wirken, konnte nur erfolglos bleiben.
Die Betroffenen der gigantischen Umverteilung im Zuge der Globalisierung wurden so allein gelassen und suchten sich selbst Sündenböcke für ihre prekäre Lage; sie in noch Schwächeren zu finden, gegen die der Kampf aufzunehmen sei, lag auf der Hand und wurde von interessierten Kreisen, die – wie die Entwicklung zeigte – vom rechten Konservatismus nicht allzu weit entfernt sind, befeuert. Dass man rechts von der Mitte bei der Abwehr der AfD deren reaktionären gesellschaftspolitischen Zielen kaum Beachtung schenkte, liegt in der Natur der Sache; dass aber auch die Linke diesen Aspekt völlig vernachlässigte und sich fast ausschließlich auf die ausländerfeindlichen und rechtspopulistischen Auslassungen der AfD konzentrierte, erwies sich als schwerer politischer Fehler, der kurzfristig, also bis zu den nächsten anstehenden Wahlen, kaum zu beheben sein wird.
Das linke Projekt, schon lange und vor allem durch die Politik der SPD fragwürdig geworden, hat damit einen weiteren Rückschlag erlitten. Leider gehört auch das zu den Punkten, die Angela Merkel ihrem Siegerkonto zubuchen kann.