Deutscher Herbst

(pri) Der Niedergang der DDR im Herbst 1989 und die derzeitige politische Krise der Bundesrepublik sind gewiss nicht auf einen Nenner zu bringen. Und dennoch gibt es Parallelen, die auf Gesetzmäßigkeiten verweisen, die über alle Systeme und Regierungsformen hinweg gültig sind. Zum Beispiel: Wenn eine Regierung die Erwartungen und Bedürfnisse der Bürger auf Dauer missachtet, ist ihr Scheitern vorprogrammiert.

Blickt man von diesem Herbst 2018 zurück auf den Herbst 1989, dann stößt man – ungeachtet der grundverschiedenen Ausgangslage – auf verblüffende Parallelen. Damals gab es in der DDR eine schnell wachsende Unzufriedenheit mit den Regierenden; sie drückte sich vor allem in der Flucht aus dem mehr und mehr als unwirtlich empfundenen Land aus. Allein im Oktober 1989 stellten fast 200 000 DDR-Bürger einen Ausreiseantrag, und ebenfalls Tausende machten sich auf den Weg, um über die Botschaften der Bundesrepublik in Budapest, Prag und Warschau in den Westen zu gelangen.

Die heutige Unzufriedenheit im schon lange wieder vereinten Land ist kaum weniger stark und immer noch zunehmend; freilich flieht man nun deswegen nicht über die Grenzen. Es genügt, den herrschenden Parteien den Rücken zu kehren. Letztmalig erreichten CDU und CSU in Umfragen ein Ergebnis von 40 Prozent im Sommer 2017, bei der Bundestagswahl im September waren es dann nur noch 32,9 Prozent, und jetzt sagen die Demoskopen lediglich um die 25 Prozent voraus. Noch schlimmer bei der SPD, die im Frühjahr 2017, im Schulz-Hype, noch auf 32 Prozent kam, um dann bei der Wahl auf 20,5 Prozent zu fallen – und derzeit in Umfragen gar auf 13 Prozent.

Doch damit ist es der Parallelen nicht genug. Damals wie jetzt eroberte der Protest auch die Straße. 1989, am 4. November, versammelten sich – nach zahlreichen Kundgebungen in fast allen Städten – auf dem Berliner Alexanderplatz weit über einer halben Million Menschen, freiwillig, nicht organisiert von der Partei- und Staatsführung. Sie zeigten originelle Losungen wie »Eure Politik ist zum Davonlaufen«, »Rücktritt ist Fortschritt« oder »Das Volk sind wir, gehen sollt ihr«. Die Kritik am in der DDR praktizierten Sozialismus verbanden die Demonstranten mit Forderungen nach Demokratie und Freiheitsrechten. 29 Jahre später, am 13. Oktober 2018, erlebte der Alexanderplatz – nach zahlreichen Kundgebungen in vielen deutschen Städten – unter dem Motto »Unteilbar« erneut eine Massendemonstration mit etwa 250 000 Teilnehmern. Jetzt ging es um eine offene und freie Gesellschaft, gegen Versuche, sukzessive Freiheitsrechte vor allem von Minderheiten einzuschränken, um den Protest gegen eine Politik also, die sich in Inhalt wie Methode immer mehr von den Menschen entfernte. Die genannten 1989er-Losungen hätten durchaus auch hier gezeigt werden können.

Das eine wie das andere Mal zeigte das Volk seiner Regierung, dass es nicht nur einen eigenen Willen hat, sondern auch den Wandel will. Aber – und damit sind wir bei der nächsten Parallele: Die Regierenden blieben 1989 und bleiben 2018 taub gegenüber solchen Erwartungen. Zwar erklärten und erklären sie ein ums andere Mal, dass sie verstanden hätten und nun Konsequenzen gezogen würden, doch ihre Taten halten mit den Worten nicht Schritt.

1989 versprach Egon Krenz einen Richtungswechsel und Reformen, aber eine grundsätzliche »Wende« war nicht beabsichtigt; die Antrittsrede des neuen SED-Generalsekretärs verkündete das faktische »Weiter so«. Nach den Wahlen in Bayern und Hessen erklärte zwar Angela Merkel ihren baldigen Verzicht auf den CDU-Parteivorsitz, aber die eigentlich von den Wählern abgestraften Ministerpräsidenten Söder und Bouffier sowie die nicht weniger gebeutelte SPD-Vorsitzende Andrea Nahles machen ungerührt weiter, legen allenfalls einen »Fahrplan« vor, der letztlich nichts anderes enthält als das schon mehrfach Versprochene. Man hofft, dass sich die Lage schon beruhigen wird und man dann im Prinzip weitermachen kann wie bisher.

Das war aber schon 1989 ein Trugschluss, denn aus dem Oktober wurde schnell eine Revolution auf den Straßen, die das alte Regime hinwegfegte und nur deshalb nicht ihr Ziel, ein neues Land mit einer neuen Herrschaftsidee, realisieren konnte, weil ihr von jenseits der Grenzen ein Stück weit die Vergangenheit in den Arm fiel. Heute geht es weniger darum, eine Regierungsform hinwegzufegen als vielmehr, Demokratie zu verteidigen, sie weiterzuentwickeln statt abzubauen – und das ist auch an der Wahlurne möglich. Wenn die Regierungsparteien das Vertrauen der Bürger verloren haben, laufen letztere – durchaus wählerisch – zur Opposition über, oder aber sie bilden gleich neue Parteien, der sie einen Vertrauensvorschuss einräumen, ob berechtigt oder nicht. 1989 bewirkte dies in der DDR eine Vielfalt von Parteien und Bewegungen. Heute führt die zunehmende Differenzierung in der Bevölkerung zur Erosion der einst weitgehend monolithischen »Volksparteien« und damit zu neuen Kräfteverhältnissen in der Parteienlandschaft.

Am spektakulärsten bekam dies bei der bayerischen Landtagswahl die CSU zu spüren, die Vertrauen in allen Teilen ihrer Klientel verlor. Die restriktive Politik der Abschottung und Abschiebung vertrieb viele jener, die sich mehr oder minder für Flüchtende und ihre Integration engagierten – noch Ende 2017 zählte man dort 70 000 ehrenamtliche Helfer bei den Flüchtlingsinitiativen; sie machten diesmal ihr Kreuz wohl bei den Grünen. Auch das neue bayerische Polizeigesetz, das wichtige Bürgerrechte einschränkt, dürfte negativ für die CSU-Wahlbilanz gewesen sein. Dieser Entwicklung Herr zu werden, indem man der AfD nachlief – blieb erfolglos, denn auch an sie verloren die Christsozialen ebenso wie an die Freien Wähler. Der Minussaldo betrug 330 000 Stimmen.

Dass dies nicht nur ein Fingerzeig für die CSU war, sondern auch für ihre größere Schwester, zeigen die Ergebnisse der Landtagswahl in Hessen. Dort verlor die CDU zweistellig und erreichte nur noch 27 Prozent. Eine Partei, die ihre Politik für alternativlos hält und eine Vorsitzende, die den 8,5-Prozent-Stimmenrückgang bei der Bundestagswahl mit den Worten kommentiert, sie wisse nicht, was sie hätte anders machen sollen, konnten Wähler immer weniger an sich binden. Angela Merkel verlor in der eigenen Partei an Statur, wie die Abwahl des von ihr favorisierten Fraktionsvorsitzenden Kauder ebenso zeigte wie der Malus, mit dem sie zum Erdrutsch für ihren Vertraueten Volker Bouffier beitrug. In Hessen wanderten 108 000 zu den Grünen, 96 000 zur AfD, 73 Prozent dieser Abtrünnigen erklärten, sie wollten damit der Bundesregierung einen Denkzettel verpassen.

Noch dramatischer ist die Lage der SPD, die in Bayern ihr Stimmergebnis halbierte und in Hessen keine 20 Prozent der Wählerstimmen erreichte. Auch die neue Führung unter Nahles und Scholz hat es nicht verstanden, sich gegenüber der Union zu emanzipieren. Zwar konnte die Partei im Koalitionsvertrag einiges durchsetzen, aber im täglichen politischen Geschäft gab und gibt sie immer wieder opportunistisch nach, ob bei der Diesel-Problematik, in der Sache Maaßen, beim § 219 a oder hinsichtlich Waffenlieferungen für Saudi-Arabien. Und die derzeitige Führung tat bislang nichts, ihr Verhältnis zur Agenda-Politik unter Schröder zu klären, was kaum verwundert, haben doch damals Verantwortliche wie Olaf Scholz noch immer das Sagen. Den wortreichen Versprechungen folgten keine Taten, und sie sind auch jetzt nicht zu erwarten. Das haben viele SPD-Wähler inzwischen begriffen, und sie werden auch in Zukunft nicht bereit sein, ohne eine klare Kehrtwendung nach links der Partei wieder Vertrauen zu schenken.

Der viel beschworene Niedergang der Volksparteien ist somit kein unerklärliches Schicksal, sondern vielmehr das Ergebnis einer Politik, die – wie 1989, nur in anderer Weise – die Menschen aus den Augen verloren hat. Ihre Erwartungen und Bedürfnisse gelten weniger als die »Sachzwänge«, die jetzt vor allem von Großkonzernen und Banken aufgenötigt werden. Damit geben sich die Regierten nicht mehr zufrieden und suchen nach Auswegen. Es entsteht eine Dynamik, der die Regierenden weitgehend machtlos gegenüberstehen. Am 18. Oktober 1989 musste Erich Honecker – nach 18 Jahren im Amt – gehen, und Egon Krenz wurde sein Nachfolger, aber nur für sechs Wochen; mit dem Rücktritt des SED-Politbüros am 3. Dezember verlor er alle Ämter. 18 Jahre führte auch Angela Merkel die CDU und bekräftigte bis zum hessischen Wahltag unbeirrt ihre erneute Kandidatur für den Parteivorsitz. Dann revidierte sie sich aufgrund des desaströsen Wahlergebnisses und des absehbaren Drucks aus der Partei, versucht aber, wenigstens das Regierungsgeschäft in der Hand zu behalten. Ob sie die restliche Legislaturperiode Kanzlerin bleibt, ist äußerst zweifelhaft. Sie ist nun eine Getriebene und weiß das wohl auch. Schon gibt es gar Propheten, die glauben, von ihr keine Neujahrsansprache mehr zu hören.

Für das Land könnte die Entwicklung dieses Herbstes zu einem reinigenden Gewitter führen, das der Weiter-so-Politik ein Ende setzt, mit allen Risiken und Nebenwirkungen. Ein politisches Vakuum eröffnet Räume, in die derzeit vor allem die Grüne Partei und Rechtskonservative vorzustoßen versuchen. Wer den Anforderungen der Zukunft eher gerecht werden kann, liegt auf der Hand, auch wenn die Grünen einst – in der Bundesregierung – zu den Urhebern heutiger Probleme gehörten. Es bedarf der Zivilgesellschaft, deren Aufbruch hoffen lässt, dass der Druck auf die Politik, sich auf die Erwartungen und Bedürfnissen der Bürger zu besinnen und entsprechend zu handeln, nicht erlahmt.

(DieserBeitrag wurde von der Zeitung »Neues Deutschland« am 08.11.2018 nachgedruckt.)

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