Ostdeutschland – von der Illusion zur Frustration

(pri) Nach 40 Jahren DDR hatten viele den Glauben an die sozialistischen Verheißungen verloren und hofften auf die bundesrepublikanische Wohlstandsgesellschaft. Stattdessen erhielten sie den gewöhnlichen Kapitalismus, aus dem nun manche keinen Ausweg mehr sehen – außer Provokation und Protest.

Zum 30. Mal wird in diesem Herbst der Mauerfall gefeiert, und zum 30. Mal wiederholt sich in den Medien, aber nicht nur dort ein Ritual der Verständnislosigkeit. »Was ist los im Osten?« fragte der »Tagesspiegel«, und die »Zeit« variierte: »Erklär mir den Osten«. Der »Spiegel« hatte natürlich die Antwort: »So isser, der Ossi« Und zwar irgendwie negativ: Undankbar, ein Jammerlappen, populistisch, uneinsichtig, anfällig für rechtes Denken. So etwas wie das schwarze Schaf in einer Familie, das sich nicht einfügen will, sondern störrisch seinen eigenen Weg geht. Eine positive Erzählung über den Ostdeutschen konnte man – von Ausnahmen abgesehen – bisher kaum finden. Und wollte sie auch nicht hören. Man wollte sich gruseln bei den Geschichten aus dem Osten und nicht etwa die Anpassung an das eigene System in Frage stellen lassen.

Und viele Ostdeutsche halfen dabei. Die Wendehälse zumal, die emsig in ihrer Erinnerung kramten, ob sie nicht auch einmal Ärger mit der Obrigkeit gehabt hatten, die sich nun zu einer kleinen Widerstandsstory ausbauen ließ. Sie, und viele mit ihnen hatten die Hoffnung, durch solche Botmäßigkeit flink dazugehören zu können, auf dass ihnen schnell die Segnungen der Hochglanz-Gesellschaft zuteil würden. Aber auch jene, die eigentlich eine andere, bessere DDR wünschten und nicht die Wende, die »Kehre«, wie es Uwe Steimle nannte, die nicht zurück in den Kapitalismus wollten, ließen sich vom Freiheitsversprechen berauschen und verfielen der Illusion, nun werde alles gut. Selbstkritisch räumte dieser Tage der einstige Bürgerrechtler Ilka-Sascha Kowalczuk in einem Interview ein, dass er »damals wie betäubt von der Freiheit war und den ganzen Tag vor Freude nur tanzte«. Dass viele zugleich aber ihre Arbeit verloren, »ich habe das für einen Kollateralschaden gehalten«.

Gleichsam über Nacht, von heute auf morgen wurde der DDR-Bürger aus dem – zugegeben sehr unvollkommenen – »Sozialismus« in den Kapitalismus gestoßen, und zwar in einen Kapitalismus, der gerade dabei war, sich zum Neoliberalismus zu radikalisieren. Schon seit Anfang der 80er Jahre gab es in den kapitalistischen Hauptländern USA und Großbritannien das Bestreben, das eigene System von Fesseln zu befreien, die ihm nicht zuletzt – wenn auch eher indirekt – der Sozialismus auferlegt hatte. Denn lange sah der Sozialismus wie eine Erfolgsgeschichte aus. Er hatte den faschistischen Drachen niedergeworfen und seine Macht erst über halb Europa und dann partiell über fast alle Kontinente ausgedehnt. Ein Drittel der Erde folgte einmal mehr oder minder den Ideen von Marx, Engels, Lenin und teils auch noch Stalin.

Doch der Sozialismus erstarrte im Dogma, versäumte rechtzeitige Antworten auf neue Herausforderungen und erwies sich so der Innovationsfähigkeit des Kapitalismus unterlegen. Der Personenkult, die Gerontokratie taten ihr übriges – und mit der zunehmenden Schwäche des Sozialismus gewann der Kapitalismus neue Kraft. Ronald Reagan, seit 1980 USA-Präsident, und Margret Thatcher, seit 1979 britische Premierministerin, machten den Neoliberalismus zur dominierenden Wirtschaftsphilosophie, der sich alsbald auch die Bundesrepublik unterwarf – zu einem Zeitpunkt, als sich aus der deutschen Vereinigung neue Herausforderungen ergaben und man diese nun mit den Konzepten eines entfesselten Kapitalismus zu bewältigen suchte.

Für die Erwartungen und Wünsche der ehemaligen DDR-Bürger blieb da wenig Raum. Sie erhielten zwar die D-Mark, verloren aber oft den Job, mit dem diese zu erlangen war. Und sie mussten erleben, dass sie sich auch ihres Eigentums nicht mehr sicher sein konnten – des gemeinschaftlichen, des Volkseigentums ebenso wenig wie zum Teil des privaten, besonders an Grund und Boden. Die Treuhandanstalt organisierte im Auftrag der Regierung einen gigantischen Eigentumswechsel. Er betraf vor allem das vom DDR-Staat verwaltete Volkseigentum, das in fremde, überwiegend westdeutsche Hände überging. Aber er betraf auch Privateigentum, das nach dem Grundsatz »Rückgabe vor Entschädigung« neu verteilt wurde, ebenfalls überwiegend an Westdeutsche. Genaueres ist darüber schwer zu erfahren; die Internetseite des Finanzministeriums »Die Aufteilung des volkseigenen Vermögens der ehemaligen DDR« aus dem Jahre 2009 liefert keine Zahlen. Aber die Bundesbank errechnete, dass ein Westdeutscher im Durchschnitt über 90.000 bis 100.000 Euro Vermögen verfügt, der Durchschnitts-Ostdeutsche dagegen nur über 23.000 Euro.

Die Folge war das, was man heute wenig zimperlich mit dem Begriff des »Abgehängtseins« umschreibt. Vor allem auf dem flachen Land verfiel die Infrastruktur, wenn sie sich »nicht mehr rechnete«. Schulen und Arztstationen wurden geschlossen, die Verkehrsverbindungen verödeten, Einkaufsmöglichkeiten verschwanden. Anders als in der DDR fühlte sich die Politik nicht verantwortlich und subventionierte Daseinsvorsorge nicht; sie hoffte, »der Markt« würde es schon richten, doch der hatte längst die soziale Komponente, zu der auch die Systemauseinandersetzung mit dem Sozialismus beigetragen hatte, hinter sich gelassen.

Und es blieb nicht bei diesen materiellen Defiziten. Die totalen Veränderungen der Lebenslage im Osten führten auch massenhaft zur Entwertung bisheriger Lebensleistungen – mit den psychologischen Folgen des Umgangs zwischen West und Ost. Der beinahe flächendeckende Austausch der Eliten schuf nicht nur soziale Probleme, sondern traumatisierte Tausende, die eben noch eine befriedigende, motivierende Arbeit gehabt hatten. So wie es unlängst in einer Rundfunksendung der Schauspieler Christian Friedel am Beispiel seines Vaters beschrieb, eines angesehenen Arztes in Dresden, der nach 1989 an Reputation einbüßte, nur weil er aus dem Osten war.

Solch versteckte, oft auch offene Diskriminierung führte zur bis heute anhaltenden Reproduktion von Personal aus dem Westen. Als in den Neunzigern in Potsdam das Zentrum für Zeithistorische Forschungen gegründet wurde, kam noch jeder zweite Mitarbeiter aus der ehemaligen DDR, so die Historikerin Annette Schumann. Heute sind es nur noch zehn Prozent. Und ihr Kollege Kowalczuk ergänzte, dass dieses Zentrum »noch nie von einem Ostdeutschen geleitet wurde, weil überhaupt noch nie irgendwo ein Lehrstuhl oder eine Institution für Zeitgeschichte von einem Ostdeutschen geleitet wurde. Ähnliches gilt für so ziemlich alle Wirtschafts- und Gesellschaftsbereiche«.

Aber noch viel gravierender als die Folgen für den einzelnen sind die Wirkungen solcher Wertverschiebungen für die Gesellschaft. Leben in der DDR galt von vornherein als verfehlt, während der Westdeutsche stolz auf sich sein konnte. Und das auch spüren ließ. Kowalczuk beschreibt das so: »Als Arbeitsloser aus Wanne-Eickel steh ich über dem Facharbeiter in Riesa, der einen Job hat. Das ist eine Frage des kulturellen Kapitals und äußerer Zuschreibungen.« Wobei er verschweigt, dass diese »Zuschreibungen« ihrerseits vor allem aus westlicher Politik und westdeutsch geprägten Medien kamen und bis heute kommen. Auch bei ihm, denn der »soziale Erfahrungsraum«, der die Menschen im Osten geprägt habe, reduziert sich bei ihm auf »die Überwachung, den Mangel, den Bürokratismus«.

Nie in den vergangenen 30 Jahren haben auch die positiven Erfahrungen der Menschen in der früheren DDR eine wesentliche Rolle gespielt. Niemand dort musste jemals befürchten, seine Wohnung nicht mehr bezahlen zu können; eher war es lange schwierig, überhaupt eine zu bekommen. Jeder hatte Anspruch auf einen Platz in Krippe oder Kindergarten. Es gab keine Zwei-Klassen-Medizin. Die Versorgung war oft schlecht, aber die Preise für den Grundbedarf stabil. Niemand musste bei Ämtern um Almosen betteln oder gar Pfandflaschen sammeln. Auf dem Lande gab es Schulen, medizinische Versorgung, Verkaufsstellen und Buslinien. Christian Friedel erinnert sich einer schönen Kindheit, auch wenn er gemaßregelt wurde, wenn er sein Pionierhalstuch vergessen hatte. »Das Schauen nach den Talenten der Kinder, das habe ich sehr genossen. Früh konnte ich herausfinden, was ich möchte, und später konnte ich es ausleben.«

Der unvollkommene Sozialismus war eine Gesellschaft auf materiell relativ niedrigem Niveau; damit gab es aber auch kaum eine Basis für Neid und Missgunst. Die soziale Kommunikation war weitgehend intakt, und die Mehrheit der Bevölkerung fühlte sich geborgen – trotz Überwachung und Repression. Die Historikerin Henrike Voigtländer hört bei ihren Forschungen über VEB immer wieder: »Es habe einen guten Zusammenhalt gegeben damals, anders als heute.« Diese Strukturen, die Halt gegeben haben, seien verschwunden, »egal wie problematisch und autoritär sie waren«. All das gehört auch zum »sozialen Erfahrungsraum« der Ostdeutschen, wurde aber oft negiert, sogar schlechtgeredet. Dennoch wirkt es fort und führt zum ständigen Vergleich des Lebens in der einen wie der anderen Gesellschaft – zunehmend nicht zugunsten des realen Kapitalismus.

Vor einiger Zeit wurde im »Neuen Deutschland« – Bezug nehmend auf den Theatermann Michael Schindhelm – für Ostdeutsche der Begriff des »Sonder-Deutschen« geprägt; vielleicht sollte man eher »Sozialismus-Deutscher« sagen. Denn bei vielen Ostdeutschen verschränken sich die Erfahrungen in zwei Gesellschaftsordnungen. Wie sie am Ende den dogmatischen Sozialismus nicht mehr akzeptiert haben, erkennen sie heute den Kapitalismus, dessen Defizite vom ersten Tag seines Bestehens sichtbar geworden waren und daher immer zu Recht hinterfragt worden sind, nicht als alternativlos an, sondern suchen nach einer besseren Gesellschaft – und stoßen dabei auf ein Dilemma: Eine ausformulierte Alternative oder gar ein erprobtes Konzept gibt es nicht. Der Sozialismus hat sich selbst diskreditiert, und die kulturelle Hegemonie des Kapitalismus und seiner Sprachrohre stellt jede neue Lösungsidee von vornherein ins Abseits.

Es mag diese gefühlte Ausweglosigkeit sein, die einen Teil der Unzufriedenen hilflos macht. Sie suchen ihr Heil in der Vergangenheit, die sie zunehmend verklären. In diese Verunsicherung stieß zielsicher die AfD. Martin Machowecz bezeichnete in der »Zeit« das AfD-Wählen als »eine Art Emanzipation … diejenigen, die früher Nichtwähler waren, vielleicht auch unzufrieden grummelnde CDU-, SPD- oder Linke-Wähler – die haben ihre Unzufriedenheit jetzt artikuliert. Dadurch wurden sie politisch sichtbar. … Der gesellschaftliche Riss ist ja nicht durchs AfD-Wählen entstanden. Er war lange vorher da. Er ließ sich nur vorzüglich ignorieren … Man verwechselte Einheit mit Gleichheit und hoffte, der Osten werde irgendwann wie der Westen … Aber der Osten ist anders, das zeigt sich immer mehr – kulturell, sozial, gesellschaftlich.«

Und es wird bleiben, weil die Tatsachen, die man schuf, vor allem in der Eigentumsverteilung, kaum rückgängig zu machen sind. Sie vertiefen die soziale Kluft, und die Politik hat wenig Möglichkeiten gegenzusteuern. Die demokratischen Kräfte können nur ohne ideologische Scheuklappen und parteipolitische Profilierungssucht nach gemeinsamen Lösungen für die dringendsten Probleme suchen. Die breiter werdenden Koalitionsbündnisse, die schon ein wenig an runde Tische erinnern, zwingen ohnehin dazu.

(Nachgedruckt von »Neues Deutschland« am 05. September 2019)

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