Wie in der Corona-Krise Täter die Opfer in Haftung nehmen

(pri) In eitler Selbstüberschätzung nehmen derzeit die in Talk-Shows omnipräsenten Politiker einen vermeintlichen Erfolg bei der Corona-Bekämpfung für sich in Anspruch. Die bei vorausschauend-verantwortlicher Politik vermeidbaren und große Teile der Bevölkerung bis zur Existenzgefährdung schwer belastenden Einschränkungen blenden sie dabei gern aus, verharmlosen sie zumindest. Vor allem aber schweigen sie über die eigenen Versäumnisse, die die in ihren Folgen noch gar nicht absehbare Katastrophe erst auslösten. Und sie betreiben ein Krisenmanagement, das die Hauptlast auf die Bevölkerung ablädt, während großen Wirtschaftsunternehmen einschließlich des Profifußballs Sonderrechte gewährt werden.

»Manchmal würde ich mir wünschen, dass wir uns darüber auch freuen, was wir erreicht haben. Ich find, das kann uns ja auch gemeinsam … erst mal stolz machen«, warf sich unlängst Gesundheitsminister Jens Spahn in die Brust. Und Finanzminister Olaf Scholz sekundierte: »Bislang haben wir mit unseren Entscheidungen ganz gut gelegen, finde ich.« Tatsächlich aber hat sich die Bundesregierung im Verein mit den Ländern bislang im wesentlichen darauf beschränkt, Verbote zu erlassen und die Menschen in ihrer Bewegungsfreiheit stark einzuschränkengewiss nicht ohne Grund, denn das Versagen im Vorfeld der Pandemie ließ keine andere Wahl mehr, wollte man die Überlastung des unvorbereiteten Gesundheitswesens verhindern. Mit den staatlichen Machtmitteln konnte sie dies auch durchsetzen; damit nahmen letztlich die Verursacher der Krise ihre Opfer in Haftung, die Bevölkerung musste ausbaden, was die Regierenden verschuldet hatten.

Das aber betrifft nicht nur das Gesundheitswesen, sondern die Verfassung der Gesellschaft generell. Der Lockdown traf ein ökonomisches System, das schon seit langem bewusst auf Verschleiß gefahren wurde und daher nicht über die Reserven und Rücklagen verfügte, die für eine solche Krise erforderlich sind. Zwar konnten – vorrangig zu Gunsten von Unternehmen – zunächst noch erhebliche Finanzmittel mobilisiert werden, doch zeigte sich schnell, dass diese nicht ausreichen würden. Hinzu kam, dass es weder im Bund noch bei den Ländern Konzepte und Ressourcen gab und gibt, die für die Hauptsache, nämlich die Bekämpfung der Covid-19-Virus, eingesetzt werden konnten. Es mangelte schon an den einfachsten Dingen, an Schutzbekleidung, Schutzmasken, Desinfektionsmitteln. Auch Beatmungsgeräte standen nicht ausreichend zur Verfügung. Gravierender noch der Personal-Engpass in Gesundheitsämtern, Krankenhäusern und Pflegeheimen, der sich wegen der verfügten Kontaktsperre noch verschärfte. Man fuhr »auf Sicht« und tut es immer noch, was aber nichts anders heißt als mit der Stange im Nebel zu stochern und im Zweifel irgendetwas zu tun, bei dem man nicht so genau weiß, was dabei herauskommt.

Im Grunde blieb die Verbots- und Gebotspolitik weitgehend das einzige Mittel, mit dem man der Pandemie zu begegnen versuchte; nur allmählich und unter großen Anstrengungen wurden neue Kapazitäten im Gesundheitswesen geschaffen, um das Schlimmste – wie es in Italien oder Spanien beobachtet werden konnte – zu verhindern. Die eigentliche Bekämpfung des Virus, etwa durch umfassende Tests, die Nachverfolgung von Infektionswegen oder gar die Entwicklung eines Impfstoffs, musste zurückstehen, wodurch wertvolle Zeit verloren ging. Die Politik bot in dieser Phase ein Bild der Hilflosigkeit, das sie allerdings wenigstens zum Teil durch besonders drakonisches Auftreten gegenüber den Bürgern zu kaschieren versuchte.

Es waren aber letztlich diese Bürger, die mit ihrer Einsicht und Disziplin zu ersten Erfolgen, nämlich dem Rückgang des Neuinfektionen, beitrugen. Sie taten dies, obwohl sie die negativen Folgen langjährigen staatlichen Versagens immer deutlicher zu spüren bekamen. Die Kontaktsperre verbannte viele von ihren Arbeitsplätzen, was sich sofort – trotz Kurzarbeitergeld – auf ihren Geldbeutel auswirkte und langfristig nicht selten die Drohung beinhaltete, vielleicht gar nicht wieder in den Job zurückzukehren. Selbständige waren von heute auf morgen ohne jede Einkünfte, und selbst wenn sie Überbrückungsgelder erhielten, blieben ihre Aussichten für die Zukunft düster. Wer von zu Hause arbeiten konnte, musste das Familienleben völlig neu organisieren, bei Eltern einschließlich der Aufgabe, zu einem gewissen Teil die Kita oder gar die Schule zu ersetzen. Mehr noch betraf dies jene, die – da systemrelevant – noch arbeiteten; sie konnten nicht einmal die Hilfe ihrer betagten Verwandten in Anspruch nehmen. Alte und Kranke, so genannte Risikogruppen, traf der Lockdown besonders; sie wurden faktisch kaserniert, Einsamkeit und Unsicherheit trat an die Stelle eines würdigen Lebensabends. Aber auch alle andern wurden in ihren sozialen Kontakten beschränkt.

Die Beispiele ließen sich fortsetzen. Sie sind der eigentliche Grund für die wachsende Ungeduld der Menschen, für den Unmut über das Beharren der staatlichen Organe auf ihrem destruktiven und in sich oft widersprüchlichen Vorgehen. Immer lauter verlangen sie stattdessen konstruktive Maßnahmen sowohl zur Bekämpfung der Seuche als auch zur Bewältigung der Verwerfungen auf gesellschaftlicher Ebene. Natürlich gibt es auch Demonstranten, die ihr politisches Süppchen kochen wollen, und Verschwörungstheoretiker, die aus Ängsten ihren Nutzen zu ziehen hoffen, doch diese sind eindeutig in der Minderheit. Die Mehrheit der Demonstranten wird aus Verzweiflung aktiv und aus Frust über das hilflose Krisenmanagement; sie haben es nicht verdient, mit rechtsextremen Provokateuren und hirnrissigen Spinnern in einen Topf geworfen zu werden. Die wachsende Tendenz in Politik und Medien, gerade das zu tun, ist nichts weiter als der Versuch, vom eigenen Unvermögen abzulenken.

Der gegenwärtige Streit darum, inwieweit Lockerungen des Lockdown möglich oder geboten sind, resultiert aus der weitgehenden Handlungsfähigkeit des Staates. Weil angesichts eines fehlenden Impfstoffs und der Unklarheit über Infektionsverläufe unverändert die Gefahr eines erneuten Ansteigens der Erkrankungen bis hin zur Überforderung des Gesundheitsastems besteht, sieht sich die Politik zu eindeutigen Entscheidungen außerstande. Gerade Angela Merkel als Wissenschaftlerin dürfte sich darüber im klaren sein, woraus ihre Hilflosigkeit und damit die besondere Vorsicht beim weiteren Vorgehen resultiert. Die Ministerpräsidenten einiger Bundesländer, die mehr als die Gesundheit der Bürger ihre weitere Karriere im Auge zu haben scheinen, verlangen von den Virologen, »dass wir vom Robert-Koch-Institut mal eine verlässliche Zahl bekommen, ab wann es gefährlich wäre«, wie es Markus Söder formulierte. Und Armin Laschet sekundierte: »Wenn alle paar Tage die Meinung geändert wird, ist das auch für Politik schwierig .« Es ist bestürzend, wie sehr beide die Aufgabe der Wissenschaft missverstehen. Sie liefert Hypothesen, die sie ständig durch neue Erkenntnisse verfeinert, aber keine Handlungsanweisungen für die Politik.

Dieses Abschieben von Verantwortung hat jedoch System, wenn es darum geht, die eigene Ohnmacht zu kaschieren. Es beginnt bei der Bundeskanzlerin, die ja sonst gern auf die angebliche Alternativlosigkeit ihrer Entscheidungen verwies, nun aber tatsächlich vor einem Dilemma steht und keinen Ausweg weiß. Die Fortsetzung des Lockdowns würde die ökonomische Krise erheblich verstärken, seine allmähliche Zurücknahme aber die Gefahr eines erneuten Ansteigens der Corona-Infektionen bergen. Flink delegierte sie die Modalitäten solcher Lockerungen nach unten und riskierte dafür sogar den Eindruck schwindender Durchsetzungsfähigkeit.

Die meisten Landesfürsten taten es ihr nach und nahmen die Kommunen in die Pflicht. Diese aber überlassen es zumeist den Einrichtungen vor Ort, wie sie die in schnellem Takt eingehenden Weisungen umsetzen – wohl wissend, dass die meisten dazu weder materiell noch personell in der Lage sind. Weil in den oberen Etagen der Machthierarchie Ratlosigkeit herrscht, sobald es konkret wird, nimmt man auch jetzt die Betroffenen ganz unten in Haftung.

Schließlich zeichnet sich auch in der Frage, wer am Ende für die Kosten der Corona-Krise aufkommen wird, eine Tendenz in Richtung jener ab, die schon jetzt die größten Lasten zu tragen haben. Sowohl die Unterschiede in der Behandlung milliardenschwerer Großunternehmen einerseits und mittelständischer Firmen und kleiner Selbständiger andererseits, von Lohnabhängigen oder gar Sozialhilfeempfängern ganz zu schweigen, zeigen, dass die Zeche erneut dem »kleinen Mann« präsentiert wird. Beim Steuerzahler werden einmal mehr die Rechnungen auflaufen; auch deshalb, weil die Unionsparteien als Besitzstandswahrer der Reichen jegliche Vermögensabgabe ablehnen. »Wir brauchen Unternehmen, die Gewinne machen, damit Steuern gezahlt werden«, begründete Angela Merkel ihre diesbezügliche Position. Dazu das vage und schon in der Vergangenheit folgenlose Versprechen, darüber, wie starke Schultern mehr belastet werden als schwächere, »werden wir die Diskussion auch für die Zukunft führen«.

So versagte die Regierung nicht nur total bei der der Vorbereitung auf Covid-19, sie steht auch in der Bewältigung der Krise wie der Kaiser ohne Kleider da. Trotz solchen Debakels sollen aber auch dessen Folgen gewissermaßen »vergesellschaftet« werden. Es wird eines harten Kampfes einschließlich entschlossener Demonstrationen abseits spinnerter Provokateure bedürfen, damit sich dieses Haftbarmachen der Betroffenen, wie bereits beim Finanzcrash 2008 praktiziert, nicht wiederholt. Die Diffamierung berechtigten Protestes dient den Verursachern der Krise gerade auch dazu. Aber ein solcher Weg – das zeigt das Corona-Virus mit unbarmherziger Klarheit – führt zielgerichtet in die Katastrophe.

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