(pri) Wer hätte gedacht, dass die Potemkinschen Dörfer des Jahres 1787 in diesen Tagen ihre Auferstehung erleben. Damals soll Gregor Alexander Potemkin, der Gouverneur Neurusslands, vor einem Besuch der Zarin Katharina in der noch öden Gegend bemalte Kulissen aufgestellt haben, »um das wahre Gesicht der Gegend zu verbergen und Aufbauerfolge vorzutäuschen«, wie Wikipedia heute anmerkt. Genau dies wiederholt sich derzeit in der Ukraine, und zwar beinahe im buchstäblichen Sinne, wenn der Kiewer Generalstab die Einnahme strategisch kaum bedeutender Dörfer vermeldet und sie mit blau-gelben Fahnen drapiert – um die Probleme mit der seit langem angekündigten Offensive zu verbergen und militärische Erfolge vorzutäuschen.
Denn diese Offensive ist offensichtlich schon am Anfang stecken geblieben. Die deutschen Leopard-2-Panzer und die US-amerikanischen Bradley-Schützenpanzer erreichten nicht einmal unversehrt die Kampflinie. Etliche von ihnen gingen vielmehr in Flammen auf oder wurden, zerstört, von ihren Besatzungen fluchtartig
verlassen. Ukrainische Angaben über Verluste gibt es nicht, Russland hingegen listete allein für den ersten Tag der Offensive neun Panzer, darunter vier Leoparden, und elf Schützenpanzer, darunter fünf amerikanische Bradley, sowie 300 getötete ukrainische Soldaten auf. Für Präsident Selenskyj ist es da schon ein Erfolg, wie er unlängst verkündete, dass sich die Offensive nicht in ihr Gegenteil verkehrte: »In einigen Gebieten bewegen sich unsere Kämpfer vorwärts, in einigen Gebieten verteidigen sie ihre Positionen und halten den Angriffen und intensiven Attacken der Besatzer stand … Wir haben keine Positionen verloren, nur befreit.«
Unter Offensive versteht man gemeinhin etwas anderes, und da ist es kein Wunder, wenn Russland längst dabei ist, an einer Nachkriegsordnung zu basteln, die den eigenen Sicherheitsinteressen weitgehend entgegenkommt. Den ersten Stein warf Dmitri Medwedew ins Wasser, immerhin Vize-Vorsitzender des russischen Sicherheitsrates. Seine Idee ist es, die Ukraine letztlich auf ihre Nachbarstaaten aufzuteilen, wobei der Westen des Landes – in Anknüpfung an historische Gegebenheiten – Polen und/oder Litauen, Rumänien und Ungarn zugeschlagen würde.
Dies scheint derzeit absurd, kann aber dann, wenn die ukrainische Offensive tatsächlich scheitert oder gar Russland weiter nach Westen vorzustoßen vermag, schon ganz anders aussehen. Dann dürfte die Versuchung der gegenwärtigen Noch-Verbündeten groß sein, durch Besetzung ukrainischer Gebiete den Feind so weit wie möglich vom eigenen Kernland fernzuhalten und danach die Grenzen vielleicht neu zu ziehen; schließlich waren in der Geschichte dieser Länder wechselnde Souveränitäten über ihre Territorien nichts Ungewöhnliches. Russland würde sich natürlich das größte Stück aus dem Kuchen schneiden, möglichst bis hinunter zur Schwarzen Meer und nach Odessa, was auch historische Kontinuität bedeutete, vor allem aber endgültig die Krim-Frage entschiede und die Rolle des Usurpators im Schwarzen Meer sicherte.
So weit ist es aber noch lange nicht, denn Russland muss damit rechnen, dass der Westen, die USA und die NATO, all ihre Kräfte mobilisieren, um gerade eine solche Entwicklung zu verhindern. Sie würde die westlichen Ziele, die inzwischen mit dem Ukrainekrieg verfolgt werden, durchkreuzen und Russland faktisch daraus als Sieger hervorgehen lassen. Diese Gefahr war wesentlich dafür, dass die westlichen Staaten ungeachtet aller Widersprüche im Detail bisher stets eine relativ einheitliche Linie verfolgten und beinahe klaglos beträchtliche finanzielle und materielle Mittel bereitstellten; daran dürften sich auch in Zukunft wenig ändern. Dieses Beharrungsvermögen lässt einen langwierigen Abnutzungskrieg erwarten; beide Seiten haben sich tief in ihren Stellungen eingegraben.
Derlei voluntaristische Politik mag, vor allem wenn Macht dahinter steht, eine Zeitlang erfolgreich sein, am Ende verwickeln sich die dadurch ausgelösten Widersprüche jedoch zu einem krisenhaften Knäuel, das kaum noch zu entwirren ist. Das bisher lehrreichste Beispiel dafür ist der Nahost-Konflikt am südöstlichen Mittelmeer. Er entsprang der 1948 eigentlich löblichen Absicht, nach Holocaust und Weltkrieg den in der ganzen Welt heimatlosen Juden einen eigenen Staat und damit eigene Sicherheit zu verschaffen. Das Problem jedoch war, dass dieser Staat auf einem Territorium, nämlich Palästina, entstehen sollte, das bereits besiedelt war – und zwar mehrheitlich von Arabern. Ungeachtet dessen stimmten zahlreiche Staaten der UNO dieser Staatengründung zu, darunter die USA und die Sowjetunion. Einen Tag später begann der Krieg zwischen Israel und den Palästinensern, die von mehreren arabischen Staaten unterstützt wurden. Er hält faktisch bis heute an, wenngleich mit stark reduzierter Hilfe aus dem arabischen Umland. Dennoch ist mehr als brüchige Waffenstillstände bisher nicht zustande gekommen.
Lehren aus dieser desaströsen Entwicklung wurden nicht gezogen; immer wieder setzten sich Wunschträume imperialer Mächte durch – und endeten in erneutem Desaster. Der Ukraine-Konflikt droht zum »Nahost-Konflikt« Europas zu werden, woran beide Seiten Schuld tragen. Russland, das in imperialistischer Anmaßung die Eigenständigkeit der Ukraine nicht anerkennen will, obwohl die Gleichberechtigung der einstigen Sowjetrepubliken zu den Grundprinzipien der UdSSR gehörte. Lenin wandte sich immer gegen »großrussischen Chauvinismus«, und es gab durchaus Phasen in der ukrainischen Geschichte, in denen die Sowjetrepublik ihre eigene Identität entwickeln und leben konnte. Doch sie wechselten sich ab mit den häufigeren Perioden gegenläufiger Entwicklung; es war ein ständiger Kampf, bei dem der größere Bruder die besseren Karten hatte.
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde der großrussische Nationalismus zu einem wichtigen Bestandteil des sich nun entwickelnden imperialistischen Selbstverständnisses Moskaus. Die Sichtweise des heutigen Präsidenten Wladimir Putin lässt eine eigenständige Existenz der Ukraine nicht zu, da diese aber ein großes und entwicklungsfähiges Land ist, ergibt sich daraus ein kaum lösbarer Dauerkonflikt. Er wird angeheizt durch die antirussischen Ambitionen des Westens, die die Systemauseinandersetzung zwischen Sozialismus und Kapitalismus überdauert haben. In der Ukraine und deren starkem Nationalismus sahen die USA und westeuropäische Staaten die Chance, ein Gegengewicht gegen Russland aufzubauen – und sie nutzten sie durch politische Einflussnahme und militärische Aufrüstung. Die lange bestehende Möglichkeit, zu einem Interessenausgleich zwischen den einstigen Kontrahenten des kalten Krieges zu kommen, wurde ausgeschlagen. Am Ende folgte Russland ebenfalls dem Wunschdenken und und setzte bei der Gewährleistung seiner Sicherheit auf Gewalt. Der Westen hat damit nichts gewonnen, denn das Dilemma ist zweiseitig; ebensowenig wie der Aggressor findet auch er keinen Ausweg heraus.
In der größten Zerreißprobe befindet sich jedoch die Ukraine, deren Land sukzessive zerstört wird, deren Bevölkerung einen hohen Blutzoll zu entrichten hat – an der Front oder bei Raketenangriffen im Hinterland. Sie hat sich von den USA und deren Verbündeten in einen Stellvertreterkrieg ziehen lassen, der realistischerweise nicht zu gewinnen ist. Für dessen Antreiber soll er lediglich dazu dienen, gegenüber einem starken Rivalen geopolitische Vorteile zu erlangen. Doch selbst dieses Kalkül wird nicht aufgehen, denn mit seiner Delegierung des verlustreichen Kriegsgeschäftes an die Ukraine hat sich der Westen in eine Bringschuld begeben.
Kiew reagiert darauf zu Recht mit immer neuen Hilfeforderungen, jedoch zeugt es auch hier von Wunschdenken, dass diese sich vorrangig auf militärische Aufrüstung richten. Das Bestehen des ukrainischen Präsidenten Selenskyi auf Abzug aller russischen Truppen aus seinem Land vor Friedensverhandlungen ist strategisch nichts als sinnloser Voluntarismus, weil dahinter eben keine eigene Macht steht. Mit fremden Waffen allein ist ein solches Ziel nicht durchsetzbar; zu mehr jedoch sind die Antreiber der Ukraine aus guten Gründen nicht bereit. Das Land wird am Ende seine Niederlage allein zu vertreten haben. Spätestens dann fallen die Potemkinschen Dörfer in sich zusammen.