Buridans Esel sucht einen Chef oder das strategische Dilemma der CDU

Dem scholastischen Philosophen Johannes Buridan wird das Gleichnis vom Esel zugeschrieben, der »zwischen zwei gleich großen und gleich weit entfernten Heuhaufen steht. Er verhungert schließlich, weil er sich nicht entscheiden kann, welchen er zuerst fressen soll.« Diese Geschichte erinnert frappierend an die aktuelle Situation der CDU, die noch in diesem Jahr einen neuen Vorsitzenden wählen will, wofür sich neben dem chancenlosen Zählkandidaten Norbert Röttgen – mit Friedrich Merz und Armin Laschet zwei Politiker bewerben, die von den Parteimitgliedern durchaus als von vergleichbarem Gewicht empfunden werden dürften.

Denn der eine – Laschet – ist Vorsitzender des größten CDU-Landesverbandes und zugleich Ministerpräsident des größten Bundeslandes Nordrhein-Westfalen; gerade erst hat er sich dort bei den Kommunalwahlen als einer erwiesen, der an der Urne gewinnen kann. Der andere war einst aufstrebender Chef der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, ehe er 2002 von Angela Merkel ausgebremst wurde. Er kam zurück, als Merkel im Vorjahr vom Parteiamt zurücktrat und versuchte, ihre Vertraute Annegret Kramp-Karrenbauer als Nachfolgerin aufzubauen; nur knapp unterlag er der Favoritin, was er auch heute noch als Beweis beträchtlicher Sehnsucht nach einem konservativerem Kurs wertet. Kramp-Karrenbauer schwenkte denn auch mit ein paar unsicheren Gesten nach rechts, öffnete damit aber Schleusen, die sie in der Affäre um die Haltung der Thüringer CDU zur AfD selbst hinwegspülten; sie hat nur noch den faktischen Zweikampf um ihre Nachfolge zu moderieren.

Merz hatte schon im Vorjahr sie, aber vor allem Angela Merkel attackiert. »Grottenschlecht« sei das Erscheinungsbild der Regierung, »Untätigkeit und mangelnde Führung« warf er der Kanzlerin vor. Und er fand vielfältige Unterstützer: den CDU-Wirtschaftsrat, die Mittelstandsvereinigung, die Junge Union, konservative Landesverbände wie jenen Baden-Württembergs und die meisten im Osten, die Werte-Union. Aber auch seine Gegnerschaft ist beträchtlich; sie sammelte sich nach Armin Laschets Bewerbung um diesen: die meisten Befürworter der Politik Merkels, die große Mehrheit des eigenen Landesverbandes, die Frauen-Union, die Sozialverbände und nicht zuletzt offensichtlich die Kanzlerin selbst, die ihm erst kürzlich bescheinigte, das größte Land der Bundesrepublik effizient zu regieren; das sei »ein Rüstzeug, das durchaus Gewicht hat«.

Die Kandidaturen von Merz und Laschet sind mithin Ausdruck unterschiedlicher Richtungen in ihrer Partei, aber zugleich wissen die Mitglieder nicht, welche davon die größeren Chancen bei Wahlen verspricht. Die Mehrheit neigt wohl der konservativen Richtung zu, und vor Jahresfrist sah es tatsächlich nach deren Renaissance aus, auch wenn es dafür schon damals keine echte Machtperspektive gab, allerdings Versuche, diese mit Hilfe der AfD zu erlangen. Das stieß jedoch auf beträchtlichen Widerstand, der sich nach dem CDU-Desaster um die Wahl eines Ministerpräsidenten mit Hilfe der AfD in Thüringen noch verstärkte. Und die folgende Corona-Krise gab Angela Merkel die Gelegenheit, unbehindert von ideologischen Grabenkämpfen exekutiv zu wirken und in der Partei verlorenes Ansehen zurückzugewinnen.

Das strategische Dilemma der CDU ist damit aber nicht aus der Welt, eher im Gegenteil. Denn Merz will sich seine letzte Chance, CDU-Chef und vielleicht gar Kanzler zu werden, nicht entgehen lassen. Aber auch Laschet sieht keinen Grund aufzugeben; er verspricht die weitgehende Fortsetzung des Merkel-Kurses und sieht sich in Übereinstimmung mit dem Zeitgeist, der sich auch im Aufschwung der Grünen und dem immer hörbareren Ruf nach sozialer Gerechtigkeit zeigt.

War es also schon schwierig, zwischen diesen beiden »Heuhaufen« eine Wahl zu treffen, so ist das durch die Entscheidung der SPD für Olaf Scholz als ihrem Kanzlerkandidaten nicht leichter geworden. Denn auch Scholz inszeniert sich als eine Art »Merkel mit Kahlkopf« und nutzt zudem seine Position als Finanzminister, um in der Corona-Krise diverse soziale Entlastungen zu organisieren, während die Unions-Minister eher für die Gebote und Verbote an die Bevölkerung zuständig sind. Gegen einen solchen Mann einen zugespitzten Wahlkampf zu führen, scheint wenig erfolgversprechend, was die Verunsicherung im CDU-Lager noch erhöht.

Als erster scheint dies der bayerische Ministerpräsident Markus Söder verstanden zu haben, und zwar schon seit der Landtagswahl 2018. Hatte er sich zuvor noch als scharfer Kritiker Merkels ob ihrer »verfehlten Flüchtlingspolitik« profiliert, sogar den Bau von Grenzzäunen gefordert, so schaltete er nach dem Verlust von 10,5 Prozent der Wählerstimmen und dem gleichzeitigen Zuwachs von 9 Prozent bei den Grünen ziemlich zügig um und grenzte sich deutlicher von der AfD ab. Gleichzeitig entdeckte er sein Herz für den Klimaschutz, umarmte Bäume und versucht so, den Grünen inhaltlich Konkurrenz zu machen. Auch dadurch erreicht die CSU bei Umfragen in Bayern inzwischen fast wieder 50 Prozent. Und – angesprochen auf Merz – ist für Söder »ein Bruch mit der Kanzlerin nicht das Richtige« und schon gar nicht eine Politik »wie vor 20 Jahren«.

Auch in der CDU wachsen inzwischen derartige Zweifel. Wolfgang Schäuble, bisher einer der wichtigsten Unterstützer von Merz, ging zuletzt eher auf Distanz zu ihm und sieht in Jens Spahn den Mann der Zukunft. Und auch die innerparteilichen Umfragen, noch vor kurzem deutlich zu Ungunsten Laschets, zeigen einen allmählichen Trend gegen Merz. Denn bei aller ideologischen Standorttreue der CDU ist für sie noch immer der Machterhalt das Hauptziel politischen Wirkens – und dementsprechend passt man sich den Entwicklungen an. Das war bei Helmut Kohl so, der Willy Brandts zuvor hart bekämpfte Ostpolitik 1982 umstandslos übernahm. Und das praktizierte auch Angela Merkel, als sie 2005 nur mit der SPD regieren konnte und sich darauf so bereitwillig einstellte, dass sie schon bald der Sozialdemokratisierung ihrer Partei geziehen wurde.

Pragmatisch wird »Buridans Esel« auch diesmal seine Entscheidung treffen – und kann dann nur hoffen, dass sie ihm bekommt.

(Eine aktualisierte Fassung dieses Textes ist am 23. September 2020 in »Neues Deutschland« erschienen.)

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