Angela Merkel – Fußabdrücke eines Chamäleons

(pri) Heute abend, 18 Uhr, endet Angela Merkels parlamentarisch legitimierte Amtszeit. Dann ist sie nur noch – wenn vielleicht auch auf längere Zeit – Bundeskanzlerin auf Abruf. Anlass für eine Bilanz.

Fußabdrücke eines Chamäleons

16 Jahre lang lenkte Angela Merkel die Geschicke des Landes, doch für die Geschichtsbücher dürfte davon nur wenig für würdig befunden werden

Durch perfekte Anpassung an das politische System der Bundesrepublik und Konzentration aufs Verwalten regierte Angela Merkel fast so lange wie Helmut Kohl. Dabei half ihr aber wohl auch ihre Sozialisation als Christin und DDR-Bürgerin.

Am Ende konnte Angela Merkel nicht einmal mehr über den eigenen Abgang bestimmen. Der sollte so unprätentiös sein wie im großen und ganzen ihre gesamte Amtszeit, doch die Not der CDU/CSU zwang sie in den Wahlkampf, von dem sie sich eigentlich fernhalten wollte. Sie scheute das Pathos, die verschwitzten Säle oder verregneten Plätze wie jüngst in Stralsund, wo sie sich für den glücklosen Armin Laschet ins Zeug legen musste – mit dem Risiko, schließlich doch zu den Verlierern zu gehören.

Angela Merkel sah sich nie als Verliererin. Es war eine der Stärken der gelernten DDR-Physikerin, dass sie sich in ihren verschiedenen Positionen kaum je von Emotionen übermannen ließ; mit rationaler Kühle führte sie die Geschäfte – und war damit erfolgreich. Ans Politik-machen legte sie gewissermaßen einen naturwissenschaftlichen Maßstab an, der besagte: Die Gesetze, nach denen sich die Welt bewegt, kann ich ohnehin nicht ändern, aber wie ich nach diesen Gesetzen lebe, sie mir zunutze mache und vermeide, dass sie mir schaden – das kann ich wohl beeinflussen. Es war das Management, das sie beherrschte, die hohe Kunst des Verwaltens. Den Ehrgeiz, Visionen zu entwerfen, hatte sie nicht. Es mangelte ihr sogar am Willen, vielleicht auch am Vermögen, längerfristig zu planen, Konzepte zu entwerfen, über den Tag hinaus zu denken.

Und doch gab es Momente, da sie nicht nur den Kopf, sondern den Bauch, vielleicht auch das Herz sprechen ließ. Dann kam es zu jenen wenigen Entscheidungen, die mehr als das alltägliche Regierungsgeschäft von ihrer Amtszeit in Erinnerung bleiben werden – auch deshalb, weil sie nicht durchweg für Erfolge stehen, aber letztlich doch Geschichte machten. Für Angela Merkel selbst mögen sie sich als Störfälle in den 30 Jahren ihres politischen Lebens in der Bundesrepublik dargestellt haben; tatsächlich jedoch ergibt sich ihre Bedeutung wohl daraus, dass sie in bestimmten zugespitzten Situationen ihre Sozialisation in einem ganz anderen Umfeld nicht verleugnen konnte. Das betrifft sowohl ihre Erziehung in einem evangelischen Pfarrhaus als auch den Lebensweg in einem ganz anderen politischen System, das sie zwar innerlich ablehnte, nichtsdestotrotz aber als eine Gegebenheit hinnahm, die man nicht ändern, in Teilen aber nutzen konnte für das persönliche Fortkommen.

In der DDR stand Angela Merkel kaum etwas aus. Sie war als Schülerin aktiv bei den Pionieren, entwickelte eine besondere Beziehung zum Russischen und der Sowjetunion, die sie gern und oft bereiste, engagierte sich als junge Physikerin an der Akademie der Wissenschaften in der FDJ, die Staatssicherheit attestierte ihr laut einer ihrer Biografinnen eine »saubere politische Haltung«. Ihre wissenschaftliche Laufbahn krönte sie 1986 mit der Promotion. »70 Prozent Opportunismus« – so kommentierte sie 1991 gegenüber Günter Gaus ihr Leben in der DDR.

Opportunismus brauchte es auch, als Angela Merkel sich nach kurzer Zeit als Vize-Sprecherin des Kabinetts Lothar de Maizière in der westdeutschen CDU wiederfand, in der sie in gewohnt patriarchalischer Manier sofort als »Helmut Kohls Mädchen« apostrophiert wurde, nachdem sie dieser erst zur Bundesministerin für Frauen und Jugend und bald darauf auch zu seiner Stellvertreterin in der Partei gemacht hatte. Sie ließ es geschehen und fügte sich nahtlos in das für sie neue politische System ein. Ohnehin Auseinandersetzungen scheuend, unterwarf sie sich der geballten Macht des westdeutschen Establishments und exekutierte zum Beispiel widerstandslos die Abschaffung der in der DDR geltenden Fristenlösung bei Schwangerschaftsabbrüchen.

Noch deutlicher wurde diese Unterordnung unter die herrschende Meinung nach Merkels Wechsel 1994 ins Amt der Bundesumweltministerin; von Kohl nicht zuletzt deshalb betrieben, weil ihm der bisherige Ressortchef Klaus Töpfer viel zu visionär und langfristig dachte. Die neue Ministerin hingegen beschränkte sich auf Einzelmaßnahmen, suchte den Ausgleich mit den mächtigen Wirtschaftsverbänden und dachte kaum konzeptionell. Umweltverbände bescheinigten ihr ein schwaches Rückgrat gegenüber der Industrie und lediglich »Trippelschritte in Richtung einer nachhaltigen Entwicklung«.

Für Helmut Kohl hingegen war Angela Merkel eine »lernfähige, entscheidungsstarke … Persönlichkeit«, und tatsächlich hatte sie in den 1990er-Jahren an Statur gewonnen und gelernt, wie mit dem bundesrepublikanischen Machtsystem umzugehen sei. Sie erkannte nach der Wahlniederlage 1998 und ihrer darauf folgenden Berufung zur Generalsekretärin die Freiräume, die sich ihr nach dem Ende des »Systems Kohl« boten und nutzte sie erstmals konsequent, um die negativen Folgen des Spendenskandals ihrer Partei in Grenzen zu halten.

Als sie im Dezember 1999 in der »Frankfurter Allgemeinen« jenen Artikel veröffentlichte, der den endgültigen Abgang des »alten Schlachtrosses« Helmut Kohl von der politischen Bühne einleitete, widersprach diese Aktion völlig den Gepflogenheiten der CDU/CSU, in Korpsgeist und Wagenburg-Denken zusammenzuhalten – unabhängig davon, wie unrechtmäßig oder gar verfassungswidrig ihre Repräsentanten handelten. Dass sie gelang, verdankte Merkel nicht zuletzt dem Umstand, dass die Unionsparteien nach 16 Jahren Regierungsmacht nun in der Opposition waren und auf ein Management hofften, das diese Krise überwand.

Doch die damalige Generalsekretärin und ab 2000 schon Parteivorsitzende ließ sich Zeit mit der notwendigen Reformierung der alten Kohl-Partei; sie fuhr im Gegenteil einen betont konservativen Kurs – ob in der Außenpolitik mit der vorbehaltlosen Unterstützung des US-amerikanischen Irak-Krieges, ob in der Innenpolitik, wo sie den Neoliberalismus forcierte und die multikulturelle Gesellschaft für gescheitert erklärte. Sie unterwarf sich auch wieder den parteiinternen Hinterzimmer-Ritualen, als sie 2002 zugunsten Stoibers auf die Kanzlerkandidatur verzichtete. Doch nach dessen Niederlage griff sie entschlossen nach der Macht, indem sie Friedrich Merz ausbootete.

Den Kurs des erklärten Wirtschaftsliberalen aber setzte sie konsequent fort, übernahm seine Idee von der Leitkultur und die Steuerreformvorschläge »auf dem Bierdeckel«, plädierte für die drastische Reduzierung des Arbeitslosengeldes und den Anstieg des Rentenalters auf 67 Jahre und überwarf sich mit der Kopfpauschale beim Krankenkassenbeitrag sogar mit CSU-Gesundheitsminister Seehofer, der deswegen von seinem Amt zurücktrat. Sie wollte mit dieser harten neoliberalen Linie ihre Position in der Partei absichern; zugute kam ihr dabei, dass zeitgleich die SPD unter Schröder und Müntefering ebenfalls den Abbau des Sozialstaats betrieb; die Agenda 2010 fand die Zustimmung von CDU und CSU.

Bei den Wählern stieß diese ganz auf das konservative Lager innerhalb der Union ausgerichtete Politik allerdings weniger auf Gegenliebe. Bei der vorgezogenen Bundestagswahl 2005 erzielte die CDU ihr schlechtestes Ergebnis seit 1949; das geplante Bündnis mit der FDP hatte keine Mehrheit. Angela Merkel musste eine damals noch große Koalition mit der SPD bilden und verstand es, sich auch dieser neuen Situation opportunistisch anzupassen, und zwar – mit der Unterbrechung 2009 – 2013 – bis heute. Sie bewies damit, dass sie keine Schwierigkeiten hat, bis dahin nützliche und daher teilweise vehement vertretene ideologische Positionen zu räumen, wenn es ihr machtpolitisch opportun erscheint. Sie wurde zum Chamäleon, dem sie Bedrohlichkeit nahm, indem sie sich zugleich als biedere Landesmutter inszenierte.

Sie rückte von radikalen wirtschaftsliberalen Forderungen ebenso ab wie – nach der Katastrophe von Fukushima – von der gerade beschlossenen Verlängerung der Laufzeit von Atomkraftwerken. Sie verweigerte beim Libyen-Konflikt die Unterstützung der USA-Politik und ließ die Abschaffung der Wehrpflicht zu. Sie setzte die Euro-Rettung gegen Widerstand aus dem Wirtschaftsflügel der Partei durch und verhinderte die Zustimmung des Koalitionspartners zur Homo-Ehe nicht. Und schließlich hielt sie 2015 die Grenzen für hunderttausende Geflüchtete offen, nachdem sie schon zuvor Deutschland als Einwanderungsland und den Islam als seinen Bestandteil akzeptiert hatte.

Diente diese Kursänderung zunächst vor allem der Machtsicherung, so war sie doch nicht rein taktischer Natur. Angela Merkel hatte erkannt, dass die Unionsparteien bereits weit nach rechts ausgriffen und dort kaum neue Anhänger gewinnen konnten. Deshalb orientierte sie sich stärker zur Mitte hin und zog tatsächlich Wähler vor allem von der SPD ab. Sie verband das jedoch nicht mit entsprechender Überzeugungsarbeit in den eigenen Reihen, sondern nutzte zugespitzte, krisenhafte Situationen, um Veränderungen in einer Art Überrumpelungstaktik durchzusetzen, besonders augenfällig bei der AKW-Abschaltung und der Flüchtlingsproblematik.

Damit irritierte sie zwar das konservative Lager der eigenen Partei, doch solange sie damit erfolgreich war, blieb Kritik auf wenige Hardliner beschränkt. Längerfristig jedoch führten Merkels mangelnder Wille und Fähigkeit zur Kommunikation und damit die ungenügende eigene Vorbereitung und der ihres Apparates zur Lösung der erwartbaren Probleme zu Unmut und Konflikten; das Beschwören fatalistischer Alternativlosigkeit verfing nicht mehr. Das tiefe Zerwürfnis vor allem mit der CSU signalisierte, dass Angela Merkel die konservativen Beharrungskräfte unterschätzt hatte und mit dem Versuch der Reformierung der Unionsparteien gescheitert war. Ein Teil ihrer Gegner positionierte sich in der rechtsextremen AfD neu; andere verlangten die Rückkehr zum Wertkonservatismus vergangener Zeiten.

Merkel korrigierte sich in der Sache und stimmte sowohl der inhumanen Schließung der europäischen Außengrenzen als auch der sukzessiven Verschärfung der Behandlung Flüchtender im Inneren zu. Lediglich von ihrer Motivation rückte sie nur halbherzig ab, was ihren Kritikern jedoch nicht genügte, bei ihren Anhängern aber Glaubwürdigkeit kostete. Die Folgen waren sinkende Zustimmungswerte in der Demoskopie und eine Serie von Wahlniederlagen, was sie mit dem Rückzug aus der CDU-Spitze beantwortete.

Die Probleme der Partei löste dies zwar nicht, eher im Gegenteil, aber Angela Merkel konnte nun abgehoben von den innerparteilichen Querelen vorerst weiterregieren, zumal angesichts der erodierenden politischen Landschaft die etablierten Parteien wenig Interesse an vorgezogenen Wahlen hatten. Auch hier bewies sie wieder große Anpassungsfähigkeit an die gegebene Situation; mit dem faktischen Ausscheiden aus der Parteiarbeit schuf sie sich einen Freiraum fürs Regieren, den niemand wirklich in Frage stellte; die Probleme mit der CDU hatte nun Annegret Kramp-Karrenbauer, die sich – demonstrativ allein gelassen von Merkel – davon schon bald überfordert zeigte. Wie dann auch die gesamte Union – nun mäandernd zwischen Wundenlecken und Machtkampf, was ihre Wähler mehr und mehr verunsicherte. Ohne ihre einstige Frontfrau haben die C-Parteien bis heute nicht Tritt fassen können.

Aber auch die Kanzlerin machte nichts aus der gewonnenen Beinfreiheit, im Gegenteil. Die Corona-Krise legte schonungslos die Defizite ihres Regierungsstils offen, der davon ausgeht, alles sei machbar, was sie für richtig erachtet, ohne selbst für die Umsetzung des Beschlossenen zu sorgen. Das Covid-19-Virus ließ sich durch solch Merkelschen Voluntarismus nicht besiegen, sondern stellte die Regierenden vor immer neue Herausforderungen, auf die sie bis heute keine wirksame Antwort fanden.

Ähnlich hilflos zeigte sich die Mannschaft der vermeintlichen Krisenkanzlerin in anderen Notsituationen, die sich zum Ende der Merkel-Ära häufen. Sowohl die extremen Hochwasser dieses Juli als auch das schmähliche Ende des militärischen Afghanistan-Abenteuers überforderten eine Administration, die sich nicht nur schon lange des Visionären entledigt hat, sondern offensichtlich auch verlernte, in langen Linien zu denken und Unerwünschtes nicht von vornherein auszuklammern. Natürlich kann Angela Merkel nicht für jedes Versagen politischer Funktionsträger unterer Ebenen in persönliche Haftung genommen werden, aber dass sich Bedenkenträgerei, Ignoranz gegenüber unerwünschten Realitäten und Verantwortungsscheu in ihrer Regierungszeit derartig ausbreiteten, hat schon mit einem Politikstil zu tun, der mehr auf Glaubenssätzen beruht als auf Wirklichkeitssinn. Das (schlechte) Vorbild der Regierungschefin wurde von allzu vielen dankbar aufgenommen, reduziert es doch Verantwortlichkeit auf nicht mehr als einigermaßen reibungsloses Verwalten.

Ausdruck dieser Banalisierung des Politischen ist nicht zuletzt das personelle Angebot für Merkels Nachfolge. Fast jeder zweite Wähler kann sich für keine(n) der Kandidaten erwärmen, sind sie doch – wenn auch mit Unterschieden – allesamt irgendwie der Methode Merkel verhaftet. Dennoch wird eine(r) demnächst ihr Amt übernehmen, womit das »Weiter so« vorprogrammiert ist. In dieser Form von Alternativlosigkeit besteht wohl das problematischste Erbe der scheidenden Kanzlerin; für die Zukunft lässt das nichts Gutes erwarten.

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